Hommage für Erich Köhler

von Petra Köhler (16.07.2023)

Empfindung

Es liebt in mir, vom Schauen blind
mit blühenden Antennen,
die fühlen und verlangen,
senden und empfangen
und so empfindsam sind.

Es liebt in mir.
Es liebt so weh und Folgen schwer
ungeübt wie unentwegt,
bald mächtig das Kleine, Schmächtige, Feine;
bald töricht das Ganze, das Reine UND Trübe;
bald weise das große Empfindungslose;
bald trotzig den Kampf.

Es liebt alle Mädchen, Wälder, Auen,
Meere, Felder, Seen, Flüsse; nicht minder die Berge,
Arbeiterheere, Kinder, Küsse
Greisinnen, der Wünsche Sternschnuppenschauer
und das Getier.
Das geht, wenn ich längst nicht mehr bin,
durch alle Natur.
Ich empfinde, wo dieses Liebende fehlt,
das Ende der Welt.

Erich Köhler, 1983

Erich Köhler ist ein anerkannter Vertreter der DDR-Literatur, dessen Werk von großer zeitloser Bedeutung ist. Was immer er schrieb, war auf Aufklärung gerichtet und hat nichts von seiner künstlerischen Ausstrahlung und gesellschaftspolitischen Aktualität verloren. „Die Menschheit will von ihren Dichtern nicht nur wissen, wie sie lebt, sie will auch hören, wie sie da herauskommen kann“, schreibt er in „Credo oder Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet“, Spotless-Verlag, 2000. In seinen „Sentenzen kontra Schwarzbuch“, Spotless 1998, bemerkt er: „Künstler sind als Geigerzähler gesellschaftlicher Strahlungen zu begreifen.“ und „Wahre Kunst trifft im Bilde stets den Nerv der Gesellschaft.“

Und genau das hat Erich Köhler mit seiner Literatur vermocht - nämlich die großen gesellschaftsrelevanten Fragen unseres Lebens, unserer Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit zu stellen. Seine immense literarische, historische, philosophische und naturwissenschaftliche Kenntnis spiegelt sich vor allem in der erstaunlichen Vielfalt seines Schaffens wieder. Es umfasst Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher, Drehbücher, Theaterstücke, Essays, philosophische Betrachtungen, Sentenzen und Polemiken, aber auch Gedichte - die meisten bisher unveröffentlicht, wenig bekannt.

Das Gedicht „Empfindung“ habe ich bewusst aus seinem Nachlass gewählt. Verdeutlicht es doch seine zutiefst humanistische Grundhaltung, die angesichts der wachsenden Bedrohung der Menschheit durch imperialistische Kriege um Macht, Öl und Bodenschätze, durch profitgierigen Raubbau an der Natur, durch Ausbeutung und Unterdrückung der Völker (nicht nur) der Dritten Welt und nicht zuletzt durch rigorosen Sozial- und Demokratieabbau in den kapitalistischen Ländern selbst zunehmend an Bedeutung gewinnt.

„Unser Handeln sei von der Ehrfurcht vor dem Leben durchdrungen, wie das Albert Schweitzer postuliert hat, von der Liebe zu allem, was Mutter Erde hervorgebracht hat, darin Mensch ein Teil ist ...“, so Erich Köhler in „Sentenzen kontra Schwarzbuch“, Spotless 1998.

Das Besondere an Erich Köhler ist seine bedingungslose moralische Integrität, die stets in Übereinstimmung von Wort und Tat wie ein roter Faden sein Leben durchzieht. Deshalb ist seine Persönlichkeit nur als Einheit von Leben, Werk und Wirken zu begreifen.

Ich lernte Erich Köhler im September 1974 als Gast im Schriftsteller-Heim „Friedrich Wolf“ in Petzow auf einer Arbeitsberatung des Kinderbuchverlages Berlin mit seinen Autoren kennen. Damals arbeitete ich in der Buchmarktforschung in Leipzig und war für die Kontakte des Volksbuchhandels der DDR zu belletristischen und Kinderbuch - Verlagen zuständig.

Im Kaminzimmer des Schriftsteller-Heimes begegnete ich einem mir unbekannten Mann, der mich, Pfeife stopfend, mit dunklen Augen warm und prüfend anschaute. Später, bei den Mahlzeiten, saß ich mit dem Kinderbuchautor Werner Lindemann und ihm an einem Tisch. Er stellte sich mir als Erich Köhler vor. Seine zurückhaltende, fast schüchterne Art nahm mich gleich gefangen - aber auch seine überzeugende Argumentation in den Diskussionen mit seinen Schriftstellerkollegen und Lektoren. Die Gedanken, die er mit seiner etwas brüchigen Stimme mit leichtem Akzent vortrug, fesselten und erstaunten mich ob ihrer Neuheit und ihrem Avantgardismus. Rein intuitiv spürte ich schon damals, dass dieser Mensch und die ungewöhnliche Kreativität seiner Ideen etwas Besonderes waren, dem Zeitgeist weit voraus.

Als er sich nach der abendlichen Diskussionsrunde von mir verabschiedete, lud er mich für den nächsten Morgen zu einer Bootsfahrt über den Schwielowsee ein. Wie selbstverständlich und ohne neugierige Fragen nach meinem körperlichen Handicap schmierte er mir meine Frühstückssemmeln.

Von nun an tauschten wir Briefe aus, trafen uns, besuchten einander. So begann unsere Partnerschaft. Er umwarb mich - scheu und hartnäckig. Aus meiner anfänglichen Sympathie erwuchs Liebe. Eine Liebe, wie man sie nur einmal im Leben erlebt - innig, bereichernd, einer im anderen und mit ihm schöpfend und schöpferisch, zutiefst verbunden in einer Weltanschauung. Es war ein großes Glück für mich, einem solchen Menschen begegnet zu sein. 1976 wurde unsere Tochter Fanny geboren. Die Fürsorge um unser gemeinsames Kind mit einem Down-Syndrom schweißte uns noch enger zusammen. 1977 heirateten wir.

Die Jahre mit Erich waren die erfülltesten und geistig fruchtbarsten in meinem Leben. Wir diskutierten über seine Manuskripte, über Kunst, Literatur, Philosophie und Geschichte. Unsere Gespräche eröffneten mir völlig neue Dimensionen, vielschichtige Betrachtungsweisen, Verständnis für Allegorien, Symbolik, Metaphern. Eine Kunstausstellung, eine Theateraufführung wurden durch ihn zum Erlebnis, zum geistigen Vergnügen. Wie er die Werke eines Künstlers interpretierte, ihre „geheimen“ Botschaften entschlüsselte - es war faszinierend! Eine neue Welt erschloss sich mir. Noch nie hat ein Mensch mir so viel gegeben - Geist, Mut, Zuversicht, Besinnung auf die eigenen Kräfte - wie Erich. Immer brachte er alles auf den Punkt, sagte nie Überflüssiges, Unwesentliches, alles war von Bedeutung und hatte einen tieferen Sinn. Wie oft rannte ich nach Stift und Papier, um seine interessanten Gedankengänge aufzuschreiben. Heute bedaure ich, dass ich viel zu wenig festgehalten habe.

Wie fehlen sie mir, diese philosophischen „Streitgespräche“! Nie werde ich unsere langen Abende am Kamin oder auf der sommerlichen Terrasse vergessen, zu zweit oder mit Freunden und Genossen, bei Rotwein und in einer schöpferischen Atmosphäre, die ich sonst nirgendwo wieder erlebt habe. Erich spielte auf seiner Ziehharmonika und sang Volkslieder, Arbeiterlieder und die Shanties seines Vaters.

Erich konnte sehr fesselnd und spannend aus seiner Kindheit und Jugend erzählen. Er war am 28.12.1928 als Sohn eines Porzellanschleifers und einer Buntdruckerin in dem Bergarbeiterdörfchen Taschwitz bei Karlsbad geboren, wo er schon frühzeitig Not und Entbehrungen der armen Leute kennen lernte. Mit seinen Eltern und Großeltern lebte er in einer kleinen Wohnung, bestehend aus einer Stube und einer Küche, später kam noch sein 1940 geborener Bruder Erwin hinzu. Trotz dieser Beengtheit fanden sich in der Köhlerschen „Hutzenstube“ fast täglich Genossen und Freunde - Kommunisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Antifaschisten - zu politischen Diskussionen ein. Auch der Frohsinn kam dabei nicht zu kurz. Sein Vater konnte wunderbar Shanties, Balladen und Moritaten singen.

Erich beschrieb seine Kindheit als „frei und ungebunden, fast wild“. („Nichts gegen Homer“, Hinstorff-Verlag, 1986) Er war voller Dankbarkeit für seine Eltern, „dass sie sich Mühe genug machten, mir alle ernsthaften Sorgen vom Leibe zu halten. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, jemals etwas in meine Kindheitsträume hinein Störendes empfunden zu haben. So konnte ich mein Leben gründlich in jener romantischen Weise gestalten, deren Erinnerung ich heute nicht gerne vermissen möchte.“ (Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, 42/1964)

Ein Großvater von Erich war sein Leben lang Analphabet, sodass die Großmutter ihm im Beisein der Enkel täglich aus der Zeitung vorlesen musste. Der andere Großvater wusste „fast alle Märchen von den Grimms bis Andersen“ aus dem Stehgreif zu erzählen. (Eva Kaufmann „Gespräch mit Erich Köhler“, „Sinn und Form“ 4/1978) Die Großmutter sammelte Kräuter und Heilpflanzen und nahm den wissbegierigen Jungen mit auf ihre Suche nach Beeren und Pilzen.

Auf diese Weise wurde Erich die Liebe zu Musik, Literatur und Natur ebenso vermittelt wie die proletarisch-kämpferische Atmosphäre im Elternhaus seinen Klasseninstinkt nachhaltig prägte. Allerdings waren seine Bildungsmöglichkeiten, insbesondere die Beschäftigung mit Literatur, als Proletarierkind stark eingeschränkt. Seine Lektüre bestand aus Abenteuerheften wie „Rolf Torring“ oder „Tom Shark“. Seine Mutter, eine einfache Fabrikarbeiterin ohne Bildungschancen, schenkte dem Zehnjährigen - zufällig und preiswert auf dem Trödelmarkt erstanden - ein Buch von Gottfried Keller „Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen“. Die Lektüre dieses Buches war Erichs erste Begegnung mit Weltliteratur und sollte sich bestimmend auf seinen Werdegang zum Dichter auswirken.

Erichs Vater war Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und einer roten Gewerkschaft. Öfter nahm er Erich zu politischen Veranstaltungen nach Karlsbad mit. Dort lernte er die Schlägertruppen der Nazis kennen und erlebte gefährliche Saalschlachten, die nicht ohne Einfluss auf seine politische Entwicklung blieben. 1943 wurde der Vater von der Gestapo verhaftet und wegen illegaler „kommunistischer Umtriebe“ mit Zuchthaus bestraft. Die Mutter musste, von einer faschistisch verhetzten Nachbarschaft unter moralischen Druck gesetzt, in den bittersten letzten Kriegsjahren allein für ihre beiden Kinder sorgen.

1946 - sein Vater hatte Dachau und Theresienstadt überlebt - siedelte die Familie in den Osten Deutschlands aus. In Mecklenburg erhielt sie eine Neubauernparzelle.

Nach nicht abgeschlossener Lehre als Bäcker, Maler und Schneider in Karlsbad schlug sich Erich nun mit Gelegenheitsarbeiten als Hilfskraft in verschiedenen handwerklichen Berufen durch. Später trampte er durch Westdeutschland und verdingte sich dort bei verschiedenen Bauern als Knecht und Landarbeiter. Von Westdeutschland gelangte er nach Holland. An der holländischen Grenze wurde er wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen und musste zur Strafe drei Tage Kartoffeln schälen.

Zu dieser Zeit arbeitete Erichs Vater im Bergwerk und erkrankte an den Folgen faschistischer Folter. Als Erich vom gesundheitlichen Zusammenbruch seines Vaters erfuhr, machte er sich sofort auf den Heimweg, löste ihn bei der Wismut ab und fuhr als Wismut-Kumpel vier Jahre in Doppelschichten in den Schacht, um Uranerz zu fördern und seine Eltern finanziell zu unterstützen.

Während Erich im Steinkohlenwerk „Karl Marx“ in Zwickau als Hauer und Steiger unter Tage arbeitete, verstarb sein Vater 1954 mit 47 Jahren - die Faschisten hatten ihm die Nieren zerschlagen.

Erich ging zur Arbeiter- und Bauernfakultät. Er lernte seine erste Frau kennen, hatte mit ihr drei Töchter und einen Sohn, den er siebenjährig zu Grabe tragen musste. Er begann in Mecklenburg in der Landwirtschaft zu arbeiten, um bald darauf in Marnitz eine LPG mitzugründen. Etwa in dieser Zeit liegen seine ersten Schreibversuche. Sein schriftstellerisches Debüt gab er 1956 mit der Erzählung „Das Pferd und sein Herr“, veröffentlicht im Verlag „Volk und Welt“, Berlin.

Die Literatur ließ ihn nicht mehr los. Man delegierte ihn an das Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig, wo er von 1958 bis 1961 studierte und das er in den Neunziger Jahren nach der Wende mit anderen Absolventen besetzte, um seine Schließung durch die neuen Herren zu verhindern.

1958 wird er in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. Sein Mitgliedsbuch trägt die Unterschriften von Anna Seghers, Erwin Strittmatter und Max Zimmering.

Nach seiner Tätigkeit als Genossenschaftsbauer und jahrelanger freischaffender Schriftsteller in Mecklenburg, ging er 1967 für drei Jahre als Mitarbeiter des Lektorats ins Kraftwerk Lübbenau. Hier entstand seine phantastische Erzählung „Der Krott oder Das Ding unterm Hut“. Es wurde ihm angeboten, sich in der Nähe von Cottbus anzusiedeln und beim Aufbau des Schriftstellerverbandes der DDR im Bezirk Cottbus mitzuwirken. So kam er 1970 mit seiner Familie in den Spreewald nach Alt-Zauche, wo seine Frau wenige Jahre später tödlich verunglückte.

Erich Köhler bezeichnete sich immer als Dichter der Arbeiterklasse. Nach seinen Vorbildern befragt, bekannte er 1966: „Von allen Dichtern, die mir ein Begriff sind, liebe ich am meisten: Edgar Allan Poe wegen seiner unerhörten Phantasie, Hans Fallada wegen seines vollblütigen Fabuliertalents,; Hans Marchwitza wegen seiner Schlichtheit und Wärme, Goethe wegen der Universalität seines Geistes und Scholochow wegen der Dramatik seiner Werke.“

Der bekannte DDR-Dramatiker Heiner Müller schätzte ein, dass „Erich Köhler nach Werk und Biographie, zu dem Dutzend für die DDR repräsentativer Schriftsteller von Rang (gehört).“

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Eva Kaufmann fragt 1978 in ihrer Abhandlung „Alt-Zauche liegt nicht hinter den Bergen“, zu Erich Köhlers Werk und Weg: „Wie kommt es, dass der Schriftsteller, dessen Bücher zum Wichtigsten und Interessantesten gehören, was die DDR-Literatur in den siebziger Jahren hervorgebracht hat, so wenig von sich reden macht?“

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Karin Hirdina schreibt in ihrer Rezension 1978 zu den beiden Romanen „Der Krott oder Das Ding unterm Hut“ und „Hinter den Bergen“, Hinstorff-Verlag 1976: „Für mich gehören sie (Köhlers Werke) - besonders ,Hinter den Bergen’ - zu den seltenen Werken, über die deshalb so schwer zu reden ist, weil sie so seltene Glücksfälle sind. Auf so selbstverständliche Weise gelungen und glücklich machend ... Es sind poetische Werke - ,bildkräftig’ sagt das Lexikon.“

Auch andere Literaturwissenschaftler und Rezensenten äußerten sich ähnlich positiv zu Erich Köhlers Werken. So schreibt Prof. Anneliese Löffler 1981 zu seinem Roman „Hinter den Bergen“: „... Er gehört mit zu den Besten, die wir haben. Vom Autor ist Ähnliches zu sagen ...und jetzt weiß man, dass unserer Literatur etwas fehlen würde, gäbe es nicht den Köhler. Die ganz besondere Note, die Originalität, er hat beides ... Der Inhalt seiner Bücher kann nicht wiedergegeben, kann nur angedeutet werden, muss vom Leser herausgefunden werden. Warum aber sollte eine kunstvolle, volkstümliche Schreibart nicht auch eine Lesekunst herausfordern dürfen, die zudem geistigen Genuss, Vergnügen, Spaß am Witz und Freude an eigener Denkfähigkeit verspricht?“

Und Prof. Waltraud Schröter hebt sein „einmaliges Talent zu intelligent komischer Gestaltung, ... sein in unserer Literatur höchst seltenes Vermögen zu souveränem Umgang mit der Satire, Groteske, dem Absurden wie dem Humor“ hervor.

Rulo Melchert schreibt in der kulturpolitischen Wochenzeitung „Sonntag“ 1986, dass Erich Köhler, der „hervorragende Erzähler aus Alt-Zauche im Spreewald“, in seinem Essay „Nichts gegen Homer“ sich auch als „scharfer Polemiker“ vorstellt.

„Köhler galt, daran sollte man erinnern, als ein Geheimtipp moderner DDR-Literatur“, so die Einschätzung seines Dichterfreundes Hinnerk Einhorn. „Er hatte es allerdings nicht leicht, seine Literaturauffassung durchzusetzen.“ Erich Köhler sagt: „Ein Autor muss Feldforscher sein, auf seinem Terrain weiter sehen, tiefer gehen, dem allgemein entwickelten Sensorium voraus sein.“ Als universelle Künstlerpersönlichkeit ist Erich Köhler Dichter und Philosoph zugleich. Seine Literatur ist anspruchsvoll, spricht ein literarisch vorgebildetes Publikum an. Auf den Einwand, manches seiner Bücher sei zu schwer verständlich, entgegnete er zu Recht, dass Kunst kein Konsumartikel ist, sondern geistige Anforderungen an den Rezipienten stellen, ihn zum Nachdenken anregen, ihn herausfordern muss, sich mit der Thematik inhaltlich auseinanderzusetzen. Ein Dichter muss deshalb beim Leser einen Wissensfundus voraussetzen können.

Ein unbedingt erwähnenswertes Werk seines umfangreichen Schaffens ist „Sture und das deutsche Herz, Ein Trollroman“, 1989 im Hinstorff-Verlag erschienen, das ein Kritiker einen „Anti-Roman“ nannte, „in dem Philosoph und Dichter miteinander konkurrieren“. In Würdigung seines Lebens und Wirkens schreibt ein Rezensent: „Nicht nur meiner Einschätzung nach haben wir es hier mit großer deutschsprachiger Schöpfung zu tun, einem Roman, der unter günstigeren Vorzeichen Eingang in die Weltliteratur erhielte. Leider ging das Buch in den reaktionären Wendewirren buchstäblich unter und fand sich stapelweise in den Händen gewissenloser Schredderer.“

Wie kommt es nun, dass ein so bedeutender Prosaist trotz all dieser hervorragenden Rezensionen und Literaturkritiken, unterschätzt und verkannt, ins Abseits gedrängt ist? „Massenhaft Autoren gibt's - nicht nur im Osten, vielleicht sogar mehr noch im Westen -, die kämpfen verzweifelt um ihr Renommee. Wenn sie einem etwas erzählen wollen, sind sie beim zweiten Satz schon bei sich selbst. Erich Köhler aber ging es um die Verbesserung der Welt. So einer stört die alltäglichen Abläufe, in welcher Gesellschaft auch immer.“ So Irmtraud Gutschke, Kulturredakteurin im ND.

Als Querdenker hatte Erich Köhler schon zu DDR-Zeiten Schwierigkeiten. Einige seiner Bücher wurden zuerst im Westen gedruckt oder sehr spät, Jahre nach dem Entstehungszeitpunkt. Ich denke da an die „Kiplag-Geschichten“, die 1964 geschrieben wurden, aber erst 1986 erschienen sind oder den „Krott“, der zuerst im Rotbuchverlag, Westberlin verlegt wurde, danach erst in der DDR.

Makabererweise haben beide Seiten - Ost und West - Erich Köhler in die Nähe eines Dissidenten gerückt, jede von ihrer gesellschaftlichen Position aus. Und das nur, weil er als Kommunist bestimmte negative Erscheinungsformen im Sozialismus kritisierte, denn nur vorwärts weisende Kritik kann bekanntlich Veränderungen bewirken. Erich Köhler hat zu Recht diese Unzulänglichkeiten immer wieder kritisiert, denn „alle Gegenwart ist entweder Vorkämpfertum oder Tendenz zum Untergang.“ (Erich Köhler)

Erichs integere, kompromisslose Haltung zeigte sich darin, dass er immer seinen Idealen treu geblieben ist.

Als man ihm 1982 unser Haus in Alt-Zauche zum Kauf anbot, lehnte er kategorisch ab: „Ein sozialistischer Schriftsteller braucht unter sozialistischen Verhältnissen kein Eigentum.“ Erst 1989, als die Wende uns keine andere Wahl ließ, stellten wir den Kaufantrag, um unsere Existenz zu sichern. Das gegen die DDR-Bürger und das Volkseigentum gerichtete Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ und die verfassungswidrige Stichtagsregelung machten unseren Kaufvertrag nach dem sogenannten Modrowgesetz ungültig, und wie Hunderttausende DDR-Bürger mussten wir - 13 Jahre lang - um unser Hausgrundstück kämpfen. Erst Ende 2002 „durften“ wir unser Haus ein zweites Mal kaufen.

Wie kaum ein anderer hat Erich Köhler nach seinen Überzeugungen gearbeitet und gelebt. Er gehört zu den „sehr seltenen Menschen“, wie der stellvertretende Kulturminister der DDR Klaus Höpcke in seinem Kondolenzschreiben hervorhob, „die den Verhältnissen an die Wurzel gehen; und bei den vorzuschlagenden Lösungen scheuen sie nicht zurück vor den Folgerungen für sich selber, für die höchstpersönliche Lebensweise.“ Das wird besonders deutlich an seinem Kampf gegen die aus der bürgerlichen Gesellschaft überkommene Warenförmigkeit der Kunst im Sozialismus.

In seinem Essay „Paralipomena“ kritisierte er die für den Sozialismus rückständige Warenförmigkeit der Literatur und hat die erwerbsmäßige Einstellung der DDR- Künstler zu Recht scharf angegriffen. In der DDR machte er den Vorschlag für Künstler, in einen volkseigenen Betrieb zu gehen, Honorare und Tantieme dort abzuliefern und ein Meistergehalt zu beziehen. Diesen Schritt hat er persönlich, als Einzelner vollzogen, nach seinem Grundsatz: „Ein Künstler soll so leben, wie die Klasse, der er dient.“ Er wollte den Erwerbsaspekt der Kunst ausschalten, indem er sich als Künstler in einem sozialistischen Betrieb integrierte. „Ich gab meinen Status als freischaffender Schreiber auf und ließ mich als schreibender Angestellter im Volkseigenen Gut ,Tierproduktion Spreewald’, Radensdorf nieder... Auch das war ein Stück Leseland, eine im Sozialismus nicht nur mögliche, sondern auch hinweisende kommunistische Feldposition im Kunstsektor nach dem Motto ,Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet'. (Goethe, Torquato Tasso) Die reaktionäre Wende machte den Fortgang dieses Modells zunichte.“ („Credo“, Spotless, 2000)

Der Untergang der DDR war für Erich Köhler ein schwerer Schlag, er litt psychisch und physisch. Trotzdem resignierte er nicht. Er war unerbittlich gegenüber dem kapitalistischen System, aber genauso gegenüber Revisionismus und Opportunismus, Doppelzüngigkeit, kultureller Ignoranz und geistigem Stillstand in den Reihen der DKP, deren Mitglied er seit 1997 war. Das kommt treffsicher, pointiert und überzeugend in seinen Kurzgeschichten, Essays, Reden und Briefen zum Ausdruck. Er verachtete alles Feige, Kleingeistige und Denkfaule. Immer wieder hat er auf Veranstaltungen, in Gesprächsrunden und Lesungen, Zeitungsbeiträgen und Publikationen die Diskussion um Kultur und Poesie, um Menschwerdung (Phase II) und höhere Geistigkeit der kommunistischen Bewegung eingebracht. Zur Menschwerdung schreibt Erich Köhler: „Die mechanistische Phase, von Friedrich Engels in seiner Studie ,Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen’ vorgestellt, ist abgeschlossen. Mensch hat sich durch Arbeit in einen Existierkäfig eingesponnen, aus dem es kein Entrinnen gibt - es sei denn durch Sinnerfüllung. Maximalprofit ist keine Sinnerfüllung, sondern Vernutzung ... Die 2. Phase Menschwerdung verlangt Überwindung mechanistisch-materialistischer Beweggründe. Das darum einzusetzende Motiv nenne ich Poesie. Sie ist mehr als eine Lyrik ... ,Poiäsia’ entwickelte sich aus dem altgriechischen pónos, das heißt Mühe, Bemühung ..., Anstrengung.“

Erich Köhler schreibt in seinem Vorwort zu den „Orphischen Variationen, Ein Sprechspiel“, das er noch kurz vor seinem Tode 2003 fertig schrieb: „Wir stehen zur Zeit noch bei Friedrich Engels ,Über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung der Affen'. Darüber müssen wir heute hinausgehen. Denn der Anteil der Arbeit daran ist abgeschlossen. Er betrifft Menschwerdung I und bezieht sich auf Wesen und Wirkung des mechanischen Materialismus. Seine Spezifik ist erfasst in dem Satz: Das Sein prägt das Bewusstsein. Dieser Spruch konstatiert einen Status quo. Es ist aber notwendig, den Status quo zu überwinden. Dieser Überwindung dient der zweite Satz: ,Das Bewusstsein prägt das Sein. Er wird von Vulgär-Materialisten verdrängt, verworfen, geradezu bekämpft. Um schlüssig zu werden, müssen wir die Herausbildung des Bewusstseins untersuchen.'“

Wir sind heute auf einem Stand angelangt, wo wir sehr wohl in der Lage sind, uns mit der Rückkopplung des Bewusstseins auf das Sein zu beschäftigen. In all seinen Betrachtungen zitiert Erich Köhler immer wieder Marx: „Die Menschheit hat schon längst den Traum von etwas, zu dem sie nur das Bewusstsein haben müsste, um ihn zu verwirklichen.“ Bereits in einer Notiz von 1987 zog Erich Köhler das Fazit aus Lenins „Linkem Radikalismus“: „Der Kommunismus ist eine vorwiegend intellektuelle Bewegung, der die Massen fehlen“ und „Über den Fortgang der Menschwerdung entscheidet nicht die nukleare Keule, sondern das massenhaft zu erweckende Bewusstsein“ - so Erich Köhler.

Deshalb ist die Untersuchung der Herausbildung des menschlichen Bewusstseins so wichtig. Erich Köhlers Vermächtnis ist es, Poesie und Kulturhaftigkeit als Triebkräfte auf dem Weg zur Menschwerdung zu vermitteln.

„Der große Einsame aus Alt-Zauche“ nannte Erich Köhler eine Zeitung in ihrem Nachruf. Große Geister, das zeigt die Geschichte, sind oft einsam, schon deshalb, weil sie im Denken und Handeln ihrer Zeit weit voraus sind wie Erich Köhler. Große Gedanken stoßen häufig auf Unverständnis, Ablehnung und Misstrauen. Große Geister schwimmen gegen den Strom. Das kostet Kraft, Mut und Standhaftigkeit. Im Kampf gegen die oft starken Gegenströmungen ist man auf sich selbst angewiesen gegen Ignoranz, Unverständnis und Dummheit. Das wusste Erich Köhler aus eigener Erfahrung.

Er brauchte die Einsamkeit, die kreative Rast und Unrast in sich selbst, die Zwiesprache mit der Natur, mit sich selbst und mit seinen Tieren. Aber er war nicht allein. Seine Fenster zur Welt waren immer weit geöffnet. Er hatte Familie, Genossen, Freunde.

Alleingelassen fühlte er sich im Kampf gegen seinen unrechtmäßigen PEN-Ausschluss 2002 nach einer zehnjährigen Rufmordkampagne. An Freunde schrieb er: „Ich komme mir vor wie ein Rufer in der Wüste.“ Dabei kämpfte er nicht um der Mitgliedschaft in dieser „renommierten“ literarischen Vereinigung willen, sondern weil er der Überzeugung war, dass im PEN wenigstens ein Kommunist Mitglied sein muss. Kompromisslos widerstand er allen Resignationsempfehlungen, vor allem der eigenen Genossen, Belächelungen und Anfeindungen, weil er Menschenrecht und geschichtliche Wahrheit auf seiner Seite wusste.

In seinen öffentlichen Wortmeldungen und Stellungnahmen hat er sich auf den Jahresversammlungen des PEN mutig zu seiner Zusammenarbeit mit dem MfS, zu seiner Verbundenheit mit der DDR bekannt und seine Motive hierfür verteidigt. Die schmutzigen Denunziationen gegen sich konterte er damit, dass er „in der DDR die schutzwürdige Alternative zur bisherigen deutschen Geschichte“ sah.

„Gott und alle Welt“ wussten, dass das Ausschlussverfahren Erich Köhlers auf unwahren Behauptungen aufgebaut ist. Nachweislich hat er weder in Wort, Schrift noch Handlungen gegen die PEN-Charta verstoßen. Er wurde nicht etwa wegen seiner IM-Tätigkeit aus dem PEN ausgeschlossen, sondern wegen mangelnder Bußfertigkeit. Wie die Praxis im PEN zeigt, hätte man ihn als reumütigen IM liebend gern behalten. Aber weil er erklärter Kommunist blieb, musste man ein Exempel an ihm statuieren - ist es doch gefährlich, wenn einer die Ideale hochhält, die andere verraten oder nie besessen haben. Die Menschheitsgeschichte hat nicht wenige derartige Beispiele dafür aufzuweisen. Vom PEN auf den Index gesetzt, wurden ihm das Recht auf Öffentlichkeit, auf Widerhall, auf Wahrgenommenwerden und damit seine Rechte als Mensch und Künstler genommen.

Der Dichter Hinnerk Einhorn schrieb im Mai 2002 nach dem Ausschluss Erich Köhlers: „Ich beglückwünsche die Mitglieder des PEN und Ingenieure der Seele zu ihrem Gedächtnis und ihrer Selbstzufriedenheit, die im Jahr 2002 endlich nichts besseres zu tun wissen, als einen kantigen Typen zu verstoßen, der seinesgleichen nicht findet. Wenn keiner mehr von uns redet, Herrschaften, werden die Nachkommen im Internet auf einen Poeten und Philosophen stoßen als Zeugen unserer Utopien und Zwiespalte, und der heißt Erich Köhler.“

Das alles hat seine Gesundheit auf Dauer nicht verkraftet. Dieser aufreibende Kampf wurde durch seinen Tod jäh unterbrochen. Erich Köhler verstarb am 16. Juli 2003 an einem Herzinfarkt, noch Einladungen schreibend für sein letztes Werk, das Sprechspiel „Orphische Variationen“, das im August 2003 zur Sommerveranstaltung der DKP Niederlausitz im Garten in Alt-Zauche zur Aufführung kommen sollte. Der Tod nahm ihm im wahrsten Sinne die Feder aus der Hand.

Trotz gesundheitlicher Probleme war Erich Köhler noch so voller schöpferischer Ideen und Gedanken. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich Hefte voller philosophischer und literarischer Notizen, Tagebücher, Entwürfe, unvollendete Manuskripte, unveröffentlichte Erzählungen, sein Briefwechsel von 1968 bis 2003 - einzigartige historische Dokumente eines großen Zeitzeugen, der die DDR, die Wende und die Herrschaft des Kapitals miterlebt hat.

Der Kampf um die Rehabilitierung Erich Köhlers geht weiter. Vor allem gilt es, das Andenken an Leben, Werk und Wirken des Dichters zu bewahren und lebendig zu halten, seinen umfangreichen geistigen Nachlass zu schützen, zu vermitteln und sein zukunftsweisendes Gedankengut weiterzuentwickeln.

Im Juni 2008 wurde die langjährige Arbeits- und Lebensstätte des DDR-Schriftstellers und Philosophen in Alt-Zauche als „Erich-Köhler-Haus“ mit einer Gedenktafel eingeweiht und der Arbeitskreis „Erich Köhler - Poetik-Initiative Menschwerdung II“ ins Leben gerufen.

Um den Nachlass zu sichern, haben wir im September 2011 die Erich-Köhler-Stiftung gegründet. Mit der Stiftung als optimales Instrument zur Nachlassregelung ist gewährleistet, dass das Erich-Köhler-Haus erhalten bleibt und das literarisch-philosophische Erbe Erich Köhlers geschützt ist.

Ziele unseres Arbeitskreises sind Wahrung und Pflege des literarischen Werkes von Erich Köhler und die Erforschung seines Lebens, Erschließung und Weiterführung der Köhlerschen Poetik, Förderung und Verbreitung seines Gedankengutes durch Veranstaltungen und Publikationen, Nutzung des „Erich-Köhler-Hauses“ als Begegnungsstätte für Interessenten, Erhaltung des Arbeitszimmers von Erich Köhler und seiner Aura.

Leider sind einige Mitglieder unseres Arbeitskreises inzwischen in andere Bundesländer verzogen oder verstorben. Unser nunmehr kleiner Kreis hat in den letzten Jahren Erich Köhlers Nachlass für den Verbleib im Arbeitszimmer kopiert und die Originale dem Archiv der Akademie der Künste in Berlin übergeben.

Petra Köhler anlässlich des zwanzigsten Todestages
und des 95. Geburtstages von Erich Köhler
im Jahre 2023