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Ein kostbarer und sehr edler Klang
- Über Stephan Hermlin

Günther Rücker: Erzählung eines Stiefsohns
Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig   1988
Auszüge aus dem Essay


»In den Künsten und Wissenschaften zählen ihre Namen, die sie im Getto erhielten und die sie mitbrachten aus Getto und Verachtung, zu den bedeutend­sten. «
Günther Rücker


* Stephan Hermlin: Lektüre
1960-1971, Berlin 1973

Während des Lesens in diesem Lektüre-Bändchen* stellt sich mir immer wieder die Stimme des Autors ein. Vieles der Lektüre ist für den Rundfunk geschrieben. Die wenig­sten seiner Leser aber haben die Rundfunklesungen gehört.

Taschenbuchausgabe von Lektüre

...
Zweitausend Meter unter mir liegt Bratislava. Ich klemme den Finger zwischen zwei Seiten der Lektüre und sehe hin­unter zur Burg. Unterhalb der Burg leuchtet Weißes auf, dort wird ein Stadtteil abgerissen, Bratislava braucht breite Straßen. Ein einziges Haus des Viertels wird stehenbleiben. Fast alle anderen waren ohne historischen Wert, Mietshäu­ser des neunzehnten Jahrhunderts, gebaut nach den Geset­zen des Profits, seit langem mühevoll vor Verfall bewahrt, abbruchreif seit zwei Generationen. Und doch schmerzt es, den Abbruch zu sehen, denn was dort abgerissen wird, ist das Getto. In diesem Preßburger Getto zeugte einst Simon Michel Preßburg eine Tochter, Sarah Lea, die in Düsseldorf den Lazar Josef von Geldern heiratete. Ihre Enkelin Betty Heine brachte im Jahre siebzehn­hundert­fünfund­neunzig den Sohn Heinrich zur Welt. Simon Michels anderer Uren­kel, Isaak Preßburg, heiratete siebzehn­hundert­fünfund­acht­zig Nanettchen Cohen und zeugte Henriette; welche Her­schel Marx, den Sohn des Rabbiners Mordechai Halevi zu Trier heiratete und ihm im Jahre achtzehn­hundert­achtzehn den Sohn Karl gebar.

So wie die Preßburg und die Halevi haben im Laufe der Jahrhunderte tausende jüdischer Familien die böhmischen und galizischen Gettos verlassen, sind aus Tarnopol, Lem­berg, Nachod und Bielitz in Deutschlands Städte gezogen und deutsche Bürger geworden, Deutsches über vieles an­dere in der Welt liebend, Deutsches bewundernd, zu Deut­schem sich hingezogen fühlend, Deutsches als ureigenstes Lebens- und Gefühlselement empfindend, sensibel, mit scharfem Verstand, nüchtern, begabt mit Gefühl, Fleiß, Zä­higkeit, Leidenschaft. In den Künsten und Wissenschaften zählen ihre Namen, die sie im Getto erhielten und die sie mitbrachten aus Getto und Verachtung, zu den bedeutend­sten. Eine Geschichte der Philosophie, der Medizin, der Physik, des Theaters, der Dichtung und Musik ist ohne ihre Namen nicht denkbar. Wenn von deutschem Wort und Lied, wenn in den Schulen von deutscher Art und Kunst die Rede war, las man aus ihren Büchern, die zu deutschen Volksbüchern in des Wortes schönstem und edelstem Sinn geworden waren, sang ihre Lieder, die das Volk, kaum daß sie geschrieben waren, als seine eigenen Lieder sang und von denen es sprach, als seien sie so alt wie das Gedächtnis des Volkes selbst.

Papa, zeig mir doch mal einen Juden! Der Jan ist ein Jude. Und wieso ist Jan ein Jude? Wir rechnen es unserer Erzie­hung hoch an, daß unsere Kinder nicht mehr verstehen, was es einst bedeutete, Jude zu sein. Die Frage wird dann meist schnell vergessen. Sie darf uns aber nicht ins Verges­sen absinken. Wir dürfen nicht vergessen, unseren Kindern immer und immer wieder zu sagen, wieviel unsere Kultur und Kunst, auch unsere heutige, jüdischen Künstlern ver­dankt. Es muß uns und unseren Nachkommen im Bewußt­sein bleiben, wieviel Talente, Begabungen, Gedanken, Fä­higkeiten starben, welche Kraft verblutete, um wieviel Schönheit die Welt ärmer ist und um wieviel ärmer sie für alle Zeiten bleiben wird durch das, was einst in einem Lande, das Deutschland hieß, geschah. "Über meine Eltern möchte ich schreiben", sagte Hermlin, als von Plänen ge­sprochen wurde, die jeder mit sich herumträgt, "eigentlich möchte ich nur über meine Eltern schreiben." Wenn er nur schriebe, dachte ich, wenn er doch nur über seine Eltern schriebe.

Wovon einer sich berührt fühlt; was eine Geste, ein Blick, eine Zartheit imstande sind, in Bewegung zu setzen; wie ei­ner von einem andern schreibt, der im Sessel saß und von einem Dritten erzählte; die Schilderung eines Spaziergan­ges an einem heißen, staubigen Tag; der Ausdruck im Ge­sicht eines Gestorbenen; wie einer eine Stadt sieht; was für einen Anzug einer anhatte, und wie er sich bewegte; das al­les sagt über Beobachter und Beobachteten nicht nur im Augenblick der Beobachtung aus. Jahre und Jahrzehnte da­nach gibt der festgehaltene Augenblick hundertfach bedeu­tungsvollere Auskunft. Darin liegt das Geheimnis der flüch­tigen Notizen einer Lebenssekunde bei Paustowski, Katajew, Ehrenburg und Hermlin. Über Dichtung und Dichter und ihre Zeit erfahre ich in wenigen Zeilen mehr als aus manchem umständlich ordnenden Aufsatz der Wis­senschaft. - "Das Wort Geheimnis kommt allmählich in Mode", vermerkte einer kritisch. Wir setzen es, glaube ich, nur wieder in seine Rechte ein.

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