Verwirklichte Poesie
Neuerscheinung 2014
Leseprobe
VORREDE zur Lesung
CREDO oder
wie gleiches Streben Held
und Dichter bindet
Freunde und Genossen, ich muß Euch mit dieser Vorrede traktieren, denn hier handelt es sich nicht um Politik, nicht um Ökonomie oder Politökonomie, auch nicht um Naturwissenschaft, sondern um das Höchste, was Menschengeist hervorgebracht hat. Über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen wissen wir Bescheid, wie aber steht es um den Anteil der Poesie? Ein gewisser Johann Heinrich MERCK (nachzuschlagen unter STURM und DRANG) sagte 1772 zu GOETHE: „Deine unablenkbare Richtung ist es, die Wirklichkeit zu poetisieren; andere suchen, die Poesie zu verwirklichen, und das gibt nichts als dummes Zeug.“ Hatte dieser GOETHE ein Schwein! Die Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts kannte weder Gaskammern, Atombomben noch bakterielle und chemische Massenvernichtungsmittel, die demnach zu poetisieren gewesen wären.
Gut ein halbes Jahrhundert später stellte Karl MARX fest: „Die Menschheit hat schon längst den Traum von etwas, zu dem sie nur das Bewußtsein haben müßte, um ihn zu verwirklichen.“
MARX schrieb ferner: „Erst muß der Mensch essen, sich kleiden, ein Dach überm Kopf haben, ehe er sich mit Kunst und Kultur befassen kann.“
Die Arithmetik dieses zwar faßlich metaphysischen Nacheinanders setzt Poesie an das Ende einer mechanischen Wirkungskette. Die Menschen brauchten nicht erst Flugzeuge, um fliegen zu können, sondern am Anfang stand der Traum vom Fliegen, die Poesie.
Die bürgerliche Gartenlaubenlyrik der Biedermeierzeit brachte die Poesie so in Verruf, daß nicht nur Arbeiter heute noch die Nasen rümpfen vor diesem Wort. Poesia stammt aus dem Griechischen und bedeutet Mühe, Bemühung. Bertold BRECHT wollte mit „Anmut sparet nicht, noch Mühe...“ dieses Verständnis von Poesie in die DDR-Nationalhymne einbringen. Johannes R. BECHER ersetzte den Reimkitsch Mühe – blühe durch: Ruinen – dienen. Tief, tief saß der Gartenlaubenmief in den Köpfen deutscher Dichter.
Ich habe die ergreifende Ansprache des Pastors FRIELINGHAUS zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung unseres Volkes vom Hitlerfaschismus durch die Rote Armee gelesen. In dem Auframmen der Tore von Auschwitz - und so vieler anderer Vernichtungslager – durch sowjetische Panzer steckt eine geballte Ladung von Poesie als Menschheitstraum. Poesie ist nicht Endglied einer metaphysisch-mechanistischen Wirkungskette sondern deren bewegendes Integral. Der Rote Stern mußte erst aufgegangen, Menschheitstraum angeträumt werden, ehe die faschistische Barbarei bekämpft werden konnte.
Poesie ist nicht geäußerte Befindlichkeit sondern sittlicher Inhalt von Arbeit und Kampf.
Jene PDS- beziehungsweise SPD-Ideologen, die Erwerbsarbeit als das Höchsterrungene hinstellen, verkleinern Arbeit zum Job.
...Arbeiter ruhn im Funzellicht
die Traufe im Genick
und Lippen, blau vor Kälte
entbieten, daß es gelte:
Vier Jahr noch, und an dieser Statt
steht Gorod Sad
die Gartenstadt...
Mit diesem „Lied vom Kusnjetzkstroj“ setzt Wladimir MAJAKOWSKI eine ganz andere Art von Arbeit ins Licht, nach der LENINschen Poetik: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes!“
Poesie ist der Charme des menschlichen Verstandes. Kunstgattungen sind nur diverser Ausdruck desselben. Im Austüfteln immer neuerer Ausbeutungsmethoden, immer ‚effektiverer’ Massenvernichtungsmittel liegt, bei aller Intelligenz, kein Charme sondern Bestialität. Bloßer Erwerbstrieb, Arbeit an sich, ist so arm wie unverwirklichte Poesie.
Verwirklichte Poesie gerinnt sofort zu krudem Alltag, der Poesie und Arbeit aufs Neue herausfordert.
Als die DDR untergegangen war, kamen die Vulgärmaterialisten und machten aus diesem Untergang ein Rechenexempel. Keiner von ihnen käme auf den Gedanken, daß Volk wie Führung die neue poetische Überhöhung über den kruden Alltag ausgegangen sein könnte.
Poesie ist Liedhaftigkeit des Tuns.
Bar aller Poesie werden auch die Besserwisser bis in ferne Zukunft keine gesamtdeutsche sozialistische Republik herbeirechnen können. Poesie hat, wie alle menschliche Erwägung, ihre Dekadenzperioden. In der Wissenschaft zeigen sich diese als Hörigkeit der Forscher zu ihren Geldgebern. In der Poesie wird, wie bei Gottfried BENN, Schönheit in Verwesung und Fäulnis entdeckt, oder, wie bei Ernst JÜNGER, Größe in der Brutalität. Solche ästhetischen Leckereien überwinden den kruden Alltag in Perversion, im Genuß von Verfall und Rückentwicklung. Wehe, wenn solche Dekadenz die Massen erfaßt!
Ohne Poesie findet Menschwerdung nicht statt.
12. August 2000