"Aber da war keiner,
da war auch nicht einer"

 
von Hinnerk Einhorn
Bucheinband

aus:

»Ach bitte, ich will
nur zehn Gramm Leben«

Gäste auf Erden

Ein ganz normaler Mittwoch im Juli 2003. Tochter Fanny war in der Werkstatt, Petra zum Einkauf in der Kreisstadt Lübben. Der Getränkehändler war gekommen. Erich brachte das Leergut aus dem Keller und schleppte die vollen Kästen die vier Stufen hoch ins Haus. Dem Händler gefiel das nicht: "Soll ich Ihnen helfen, Herr Köhler, lassen Sie es sein, Sie sehen nicht gut aus !" Denn Köhlers Gesicht war schweißig und grau.
"Ach, was..."

Autor: Hinnerk Einhorn 2009

Als Petra nach Hause kam, fand sie ihren Mann erkaltet neben den Wasserkästen.
Der zähe Arbeiter E.K., Porzellanmaler - und Bäckerlehrling, Steiger bei der Wismut, Landarbeiter und Schriftsteller, der Sohn einfacher aufrechter Leute aus Karlsbad, ward gefällt durch Herzeleid, Gram und ohnmächtigen Zorn.
In seinem guten stahlblauen Anzug war Köhler - schon aus dem PEN ausgeschlossen - im Mai 2003 zur Versammlung nach Schwerin gefahren, um an die Delegierten vor Ort seine "Schutzred" zu verteilen und um sein Recht zu kämpfen. Die Damen und Herren Schriftsteller waren von seinem Auftritt peinlich berührt, einige vielleicht amüsiert. Wer ihn gut gekannt hatte, kannte ihn plötzlich nicht mehr.
Aber der "Ehrenrat" des deutschen PEN hatte ja - nach Recht, Gesetz und Ehre - empfohlen, ihn auszuscheiden. "Er schaute umher, ob sich keiner erbarm, aber da war keiner, da war auch nicht einer, zu trösten ihn." 1)

Erinnerungen an Erich Köhler

(...)
Erst im Herbst 1969 begegnete ich ihm (K. Wolfgang Mittmann) wieder in der »Arbeitsgemeinschft junger Autoren des Schrift­steller­verbandes Cottbus«, und wir soll­ten über die Jahre hin bis 2005 stän­dig im Kontakt bleiben. Zunächst bei den monatlichen Zusammenkünften der AJA, bei Wochenendtreffen in Heimen des Schriftstellerverbandes und auf Reisen in die SU.
Seine Krimis - zunächst in der "Blau­licht"-Serie veröffentlicht - die er mit entsprechender Sachkunde schrieb, waren nie Bauernfängerei mit forschem Unterhaltungsdrang, sie zeichneten sich stets aus durch ihren ethischen Anspruch: Fälle von Verfehlungen und Verbrechen waren bei ihm Ausdruck gesellschaftlicher Probleme.
Unser Mentor Erich K. war ein stren­ger Lehrer, der nicht nur gründliche Ko-Lektorate zu den vorgestellten Manuskripten abverlangte, sondern auch Spaß an übergreifenden literaturkritischen und philosophischen Darstellungen hatte. Irgendwelches "flaches Zeug" hätte vor ihm keine Gnade gefunden.
In den schönen Häusern von Petzow und Wiepersdorf war aber an den Aben­den auch Zeit für gemeinsames Singen mit Erichs Zerrwanst-Begleitung, sei es der "Herrliche Baikal", sei es "Waldes­lust", der "Bauernlümmel" oder das Eisenbahner - Lied : "Was kann's im Leben schöneres geben, ich möchte Eisenbahner sein" - mit dem phäno­menalen Refraintext : "Und die Schranken fallen ein..."

«Und die Schranken fallen ein...«

Diese Erzählung findet sich ebenfalls im vorgestellten Titel von Hinnerk Einhorn

Dieser Delinquent hatte nicht bereut und nicht abgeschworen - wie andere prominente "Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR" - so gelenkig war er nicht, der Waldkauz aus Alt Zauche.
Köhler schrieb: " Als in Berlin 200 000 oder mehr Intellektuelle gegen etwas demonstrierten, aber nicht wußten wofür, da stand ich auf dem Güllerost inmitten unserer Aufzuchtrinder. Diese wollten gefüttert, gepflegt, betreut, getätschelt werden. Mein 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' war in diesem Falle den Tieren zugewandt." 2)
Als Max Walther Schulz im Juni 1984 wegen unbotmäßigen Veröffentlichungen in "Sinnn und Form" sogar im Politbüro der SED antreten mußte, hatte ihm der Generalsekretär Erich Honecker vor versammelter Mannschaft die Leviten gelesen : "Du hast zuerst Genosse und an zweiter Stelle Schriftsteller zu sein, so wie ich zuerst Genosse und an zweiter Stelle Dachdecker bin".
Erich Köhler war an erster Stelle Genosse, an zweiter Schriftsteller. Er machte keinen Unterschied zwischen seinem Gewissen und der Erwartung der Partei, sein Engagement für diese deutsche Alternative DDR war unumstößlich.
Der Epigrammatiker Hanns Arfrid Astel aus dem Saarland sagt von ihm, Köhler sei ein "Gesinnungstäter" gewesen.
Was warf man ihm vor? Köhler hatte versucht, auf die Auswahl von Texten für eine Anthologie Klaus Schlesingers Einfluß zu nehmen, und er gab Kommentare ab zu Werken anderer DDR- Autoren. Tragikomisch, daß er sich in sarkastischer Schärfe über Leute geäußert hatte, die später selber als IMs enttarnt werden sollte..
Doch stimmt das mit der Honeckerschen Kategorie? Der Philosoph und Schriftsteller E. K. hatte längst seine Maßstäbe jenseits der Ästhetik der DDR gefunden - nicht ohne diese progressiv mitzubestimmen .
In meinem Arbeitsbuch von 1979 finde ich Kernsätze von E.K. wie diese:
"Jeder Autor ist ein Feldforscher, der in seiner Erkenntnis weiter ist als die allgemeine Gesellschaft.

Im Mythos sind immer die Sündenböcke Menschenopfer, denen der Clan Schuld auflädt, um sich selber zu erlösen.
Wir sind weniger wert, als wir glauben. Wir sind noch Barbaren, immer wieder diese Schlachtopfer, die fallen müssen, um den Mob zu entschärfen. Jetzt richten wir nichts aus, wir vergehen. Aus dem Urgrund steigen neue Kräfte andernorts. Und dennoch haben wir die Pflicht, das Ideal weiterzugeben. Ohne Gedichte krümmt sich die diamantene Achse der Erde (nach Attila Jósef)".
Der Siebenundsechzigjährige erbat sich meine griechische Grammatik und lernte im Selbststudium Griechisch, um die Klassiker der Antike: Platon, Hesiod und Epikur im Original lesen zu können.
Seine Randglossen zu Ernst Blochs "Prinzip Hoffung" verdienten eine Veröffentlichung.
Bereits 1963 war der Autor mit seinen "Kiplag - Geschichten" in phantastische Gründe hinabgestiegen, wie man sie sonst nur von Borges oder Edgar Allan Poe kannte.
In seinem Roman "Hinter den Bergen" von 1976 wird eine ideale Gemeinschaft aufgebaut und – scheitert, mehr als zwanzig Jahre vor der Implosion der DDR.
Seine Industriereportage "Der Krott oder das Ding unterm Hut" (1976) hatte die gültigen Auffassungen von sozialistischer Kunst-Gestaltung kräftig und nachhaltig durchgeschüttelt. Welch ein Wirklichkeitsgewinn!"- jubilierten prominente Stimmen einer progressiven Ästhetik und Kunstkritik .. .
Der Philosoph Köhler hatte längst erkannt, daß ein humanistisches Gemeinschaftswesen nur gestaltet werden konnte, wenn der einzelne sein Handeln nach Kants kategorischem Imperativ bestimmte, so wie auch Lenin es fortgeschrieben hatte in seiner "Großen Initiative" : Die freiwillige Mehrarbeit des einzelnen ohne den Druck der Knute oder nackten Zahlung als die Voraussetzung für den Fortschritt aller…
Gescheitert am Spießertum einer gemütlichen Gesellschaft, oder ohnehin nur Faxen an der langen Leine der Selbstherrscher im Kreml?
Sowohl der "Krott" als auch die "Kiplag - Geschichten" hatten in der DDR nur erscheinen können - weil die Texte bereits bzw. gleichzeitig im Westen des Landes zur Veröffentlichung anstanden und dem Verlagswesen Devisen einbrachten.
In seinem erst 1990 erschienenen und leider kaum wahrgenommenen Trollroman "Sture und das deutsche Herz" durchschreitet der Erzähler die Etappen menschlicher Geschichte und kommt als wahrer Poet längst vor dem Ende der DDR zu solchem Schluß. Der Seher Köhler war klüger, als der Genosse sich eingestehen konnte und wollte.
Noch im Nachgang der Geschichte kämpfte er verbissen um Einsicht und Vernunft seiner Leser, wenigstens einer kleinen Elite von Kommunisten: "Orpheus ersang sich den Zugang zur Unterwelt, um Euridike herauszuholen. Wir entdecken daran die Liedhaftigkeit des bewußten Tuns.
Die Botschaft heißt: Die Menschheit muss singend aus den Niederungen ihres Daseins hinausmarschieren. Kommunismus ist verwirklichte Poesie." 3)
Erich Köhler war auch in der öffentlichen Diskussion stets unerbittlich. Die erlauchtesten Geister - auch Stefan Hermlin oder Erwin Strittmatter - konnten mit saftigen Abreibungen rechnen. Aber geradezu glücklich konnte er über bescheidene poetische Anfänge sein, die in seinem Sinne "orphischen Charakter" zeigten.
Ich erinnere mich vernichtender Kritik und ebenso liebevoller Verehrung meiner bescheidenen Versuche. Lieblingsverse hatte er über die Jahre im Gedächtnis. Ich denke an unzählige Stunden gemeinsamen Angelns und Pilzesuchens, begleitet vom Hund Kuno. Ich höre die rauhe, warme Stimme mit dem böhmischen Akzent, rieche seine schmochende Tabakspfeife, deren Vanille - Aroma nach heute aus den Buchrücken und Manuskriptblättern duftet, und ich denke an die beschwingt - melancholische Musik, die er seinem Zerrwanst entlocken konnte.
Im guten stahlblauen Anzug neuesten Schnitts lag er im Sarg. So entspannt und friedlich lächelnd, könne sie ihn gut in Erinnerung behalten, sagte Petra.
"Nein", sagte Tochter Fanny , "Es fehlt was, Papa hat immer seinen alten Hut aufgehabt, der Hut muß mit ihm mit!"
1) G.F. Händel, Messias
2) E.Köhler, Credo, S.108, Spotless-Verlag 2000
3) E.Köhler , nach dem Manuskript "Orphische Variationen", S.10

"Aber da war keiner, da war auch nicht einer"
aus: »Ach bitte, ich will
nur zehn Gramm Leben«

Gäste auf Erden
von Hinnerk Einhorn
erschienen in der Reihe »Lebenszeichen« in Zusammenarbeit mit dem
»Dachverband Altenkultur e.V.«, Geschäftsstelle Leipzig

Titelbild des Leporellos mit H. Einhorns Gedicht: Sie thronen auf ihren Hitschen/ labern und matschen/ als hätten wir/ jede Zeit der Welt und/ könnten alles hundertmal/ neu zusammenkleckern/ Bebbermumpe!

Bibliophile Kostbarkeit

Das vierte Büchlein der Reihe Zwiedruck ist erschienen und trägt den Titel »Bebbermumpe!«. Unter diesem in Leipzig heimischen Wort versammelt Hinnerk Einhorn eine Auswahl seiner Gedichte.

Karl-Georg Hirsch schuf hierzu
13 Holzstiche,
Matthias Gubig übernahm die Buchgestaltung und Typografie.

Die Realisierung des Buches unterstützte das Museum für Druckkunst Leipzig, dort wurden auch die Grafiken von den Original-Holzstöcken gedruckt. Auf das Büttenpapier Alt-Burgund druckte die Grafische Werkstatt Liebsch im Offset die Texte. Die zwanzig Seiten dieses Büchleins wurden in Form eines Leporello mit Umschlag von Michael Knop gebunden.

Alle 99 Exemplare der Auflage sind nummeriert und vom Autor, dem Grafiker und dem Buchgestalter signiert.

Montag, 29. September 2008

 
Die Bücher der Reihe »Edition Zwiedruck«
können zum Preis von jeweils 75 Euro
bei den Herausgebern erworben werden.

Dieser Inhalt wurde entnommen bei

pirckheimer-blockspot.com

Pirckheimer-Gesellschaft e.V.

Edition Zwiedruck
Herausgegeben von
Karl-Georg Hirsch und Matthias Gubig

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Vergleiche auch:

Menschwerdung 2

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