Auszug aus:
W.I.Lenin - Werke,
Band 29, S. 408 - 417
(März-August 1919)
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976
Die große Initiative
...
Ich habe mit größter Ausführlichkeit und Vollständigkeit die Berichte über die kommunistischen
Subbotniks angeführt, denn hier sehen wir zweifellos eine der wichtigsten Seiten des
kommunistischen Aufbaus, der unsere Presse nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt und die wir alle
noch nicht genügend gewürdigt haben.
Weniger politisches Wortgeprassel und mehr Aufmerksamkeit für die einfachsten, aber lebendigen,
dem Leben entnommenen, durch das Leben erprobten Tatsachen des kommunistischen Aufbaus - diese
Losung müssen wir alle, unsere Schriftsteller, Agitatoren, Propagandisten, Organisatoren und
so weiter, unablässig wiederholen.
Es ist natürlich und unvermeidlich, daß uns in der ersten Zeit nach der proletarischen Revolution
vor allem die Haupt- und Grundaufgabe beschäftigt - die Überwindung des Widerstandes der
Bourgeoisie, der Sieg über die Ausbeuter, die Unterdrückung ihrer Verschwörung (wie die
"Verschwörung der Sklavenhalter" zur Preisgabe Petrograds, an der alle, von den Schwarzhundertern
und den Kadetten bis zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären einschließlich, beteiligt waren.
Aber neben diese Aufgabe tritt ebenso unvermeidlich - je weiter, desto mehr - die wesentlichere
Aufgabe des positiven kommunistischen Aufbaus, der Schaffung neuer ökonomischer Beziehungen, der
Errichtung einer neuen Gesellschaft.
Die Diktatur des Proletariats ist - worauf hinzuweisen ich schon mehr als einmal Gelegenheit hatte,
unter anderem auch in meiner Rede vom 12. März in der Sitzung des Petrograder Sowjets der
Arbeiterdeputierten - nicht bloß Gewalt gegenüber den Ausbeutern und sogar nicht einmal
hauptsächlich Gewalt. Die ökonomische Grundlage dieser revolutionären Gewalt, die Gewähr für ihre
Lebensfähigkeit und ihren Erfolg besteht darin, daß das Proletariat einen im Vergleich zum
Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit repräsentiert und
verwirklicht. Das ist der Kern der Sache. Darin liegt die Quelle der Kraft und die Bürgschaft für
den unausbleiblichen vollen Sieg des Kommunismus.
Die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit in der Zeit der Leibeigenschaft beruhte auf
der Disziplin des Stocks, bei äußerster Unwissenheit und Verschüchterung der Werktätigen, die von
einer Handvoll Gutsbesitzer ausgeplündert und verhöhnt wurden. Die kapitalistische Organisation
der gesellschaftlichen Arbeit beruhte auf der Disziplin des Hungers, und die übergroße Masse der
Werktätigen blieb trotz allem Fortschritt der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Demokratie
selbst in den fortgeschrittensten, zivilisiertesten und demokratischsten Republiken eine Masse von
unwissenden und verschüchterten Lohnsklaven oder niedergedrückten Bauern, die von einer Handvoll
Kapitalisten ausgeplündert und verhöhnt wurden. Die kommunistische Organisation der gesellschaftlichen
Arbeit, zu der der Sozialismus der erste Schritt ist, beruht und wird - je weiter, desto mehr -
beruhen auf der freien und bewußten Disziplin der Werktätigen selbst, die das Joch sowohl der
Gutsbesitzer als auch der Kapitalisten abgeschüttelt haben.
Diese neue Disziplin fällt nicht vom Himmel und entsteht nicht aus frommen Wünschen, sie erwächst
aus den materiellen Bedingungen der kapitalistischen Großproduktion und nur aus ihnen. Ohne diese
Bedingungen ist sie unmöglich. Der Träger dieser materiellen Bedingungen aber, oder ihr Schrittmacher,
ist eine bestimmte geschichtliche Klasse, die vom Großkapitalismus hervorgebracht, organisiert,
zusammengeschlossen, geschult, aufgeklärt und gestählt worden ist. Diese Klasse ist das Proletariat.
Diktatur des Proletariats bedeutet, wenn man diesen lateinischen, wissenschaftlichen,
historisch-philosophischen Ausdruck in eine einfachere Sprache übersetzt:
Nur eine bestimmte Klasse, nämlich die städtischen Arbeiter und überhaupt die Fabrikarbeiter, die
Industriearbeiter, ist imstande, die ganze Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten zu führen im
Kampf für den Sturz der Macht des Kapitals, im Prozeß des Sturzes dieser Macht, im Kampf um die
Sicherung und die Festigung des Sieges, bei der Schaffung der neuen, der sozialistischen
Gesellschaftsordnung, in dem ganzen Kampf für die völlige Aufhebung der Klassen.
(In Parenthese sei bemerkt: Der wissenschaftliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus
besteht lediglich darin, daß das erste Wort die erste Stufe der aus dem Kapitalismus erwachsenden
neuen Gesellschaft, das zweite Wort die höhere, weitere Stufe dieser Gesellschaft bezeichnet.)
Der Fehler der gelben "Berner" Internationale besteht darin, daß ihre Führer den Klassenkampf und
die führende Rolle des Proletariats nur in Worten anerkennen und Angst haben, bis zu Ende zu denken,
daß sie gerade vor jener unvermeidlichen Schlußfolgerung Angst haben, die für die Bourgeoisie
besonders schrecklich und absolut unannehmbar ist. Sie haben Angst anzuerkennen, daß die Diktatur
des Proletariats ebenfalls eine Periode des Klassenkampfes ist, der unvermeidlich bleibt, solange
die Klassen nicht aufgehoben sind, und der seine Formen ändert, wobei er in der ersten Zeit nach
der Niederwerfung des Kapitals besonders erbittert ist und besonders eigenartige Formen aufweist.
Nach der Eroberung der politischen Macht stellt das Proletariat den Klassenkampf nicht ein, sondern
setzt ihn - bis zur Aufhebung der Klassen - fort, aber selbstverständlich unter anderen Umständen,
in anderer Form, mit anderen Mitteln.
Was bedeutet aber "Aufhebung der Klassen"? Alle, die sich Sozialisten nennen, erkennen dieses
Endziel des Sozialismus an, aber bei weitem nicht alle denken sich in seine Bedeutung hinein. Als
Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz
in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils
in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in
der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der
Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von
Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit
ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.
Es ist klar, daß man zur völligen Aufhebung der Klassen nicht nur die Ausbeuter, die Gutsbesitzer
und die Kapitalisten, stürzen, nicht nur ihr Eigentum abschaffen muß, man muß auch sonst jedes
Privateigentum an den Produktionsmitteln abschaffen, man muß sowohl den Unterschied zwischen Stadt
und Land wie auch den Unterschied zwischen Hand- und Kopfarbeitern aufheben. Das ist ein sehr
langwieriges Werk. Um es zu vollbringen, bedarf es eines gewaltigen Schritts vorwärts in der
Entwicklung der Produktivkräfte, muß man den Widerstand der zahlreichen Überreste der
Kleinproduktion überwinden (einen oft passiven Widerstand, der besonders hartnäckig ist und sich
besonders schwer überwinden läßt), muß man die ungeheure Macht der Gewohnheit und Trägheit
überwinden, die diesen Überresten anhaftet.
Anzunehmen, daß alle "Werktätigen" gleichermaßen zu dieser Arbeit fähig sind, wäre eine völlig
hohle Phrase oder die Illusion eines vorsintflutlichen, vormarxschen Sozialisten. Denn diese
Fähigkeit ist nicht an sich gegeben, sondern sie erwächst historisch und erwächst nur aus den
materiellen Bedingungen der kapitalistischen Großproduktion. Diese Fähigkeit besitzt bei Beginn
des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus nur das Proletariat. Das Proletariat ist imstande,
die ihm zufallende gigantische Aufgabe zu erfüllen, erstens weil es die stärkste und
fortgeschrittenste Klasse der zivilisierten Gesellschaften ist; zweitens weil es in den entwickeltsten
Ländern die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht; drittens weil in den rückständigen kapitalistischen
Ländern, wie etwa Rußland, die Mehrheit der Bevölkerung Halbproletarier sind, d. h. Menschen, die
ständig einen Teil des Jahres proletarisch leben, die ständig einen gewissen Teil ihres
Lebensunterhalts durch Lohnarbeit in kapitalistischen Betrieben erwerben.
Wer die Aufgaben des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu lösen versucht, indem er von
allgemeinen Phrasen über Freiheit, Gleichheit, Demokratie schlechthin, Gleichheit der
Arbeitsdemokratie usf. ausgeht (wie das Kautsky, Martow und die anderen Helden der gelben Berner
Internationale tun), offenbart damit nur seine Natur als Kleinbürger, Philister, Spießer, der in
ideologischer Hinsicht sklavisch hinter der Bourgeoisie einhertrottet. Zu einer richtigen Lösung
dieser Aufgabe kann man nur kommen durch das konkrete Studium der besonderen Beziehungen zwischen
der besonderen Klasse, die die politische Macht erobert hat, nämlich dem Proletariat, und der
gesamten nichtproletarischen sowie der halbproletarischen Masse der werktätigen Bevölkerung, wobei
diese Beziehungen sich nicht in einem eingebildet harmonischen, "idealen" Milieu, sondern in dem
realen Milieu des wütenden und vielgestaltigen Widerstandes der Bourgeoisie herausbilden.
Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung - und erst recht der Werktätigen - in jedem kapitalistischen
Lande, Rußland eingeschlossen, hat das Joch des Kapitals, hat Räubereien und Verunglimpfungen aller
Art von seiten des Kapitals tausendfach am eigenen Leibe und an ihren Nächsten erfahren. Der
imperialistische Krieg - d. h. die Ermordung von zehn Millionen Menschen, um die Frage zu
entscheiden, ob dem englischen oder dem deutschen Kapital der Vorrang bei der Ausplünderung der
ganzen Welt zufallen soll - hat diese Prüfungen außerordentlich verschärft, erweitert, vertieft
und dazu gezwungen, sich ihrer bewußt zu werden. Daher die unausbleibliche Sympathie der übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere der Masse der Werktätigen für das Proletariat, das mit
heroischer Kühnheit, mit revolutionärer Rücksichtslosigkeit das Joch des Kapitals abschüttelt, die
Ausbeuter stürzt, ihren Widerstand bricht, mit seinem Blut den Weg bahnt zur Schaffung einer neuen
Gesellschaft, in der es keinen Platz für Ausbeuter geben wird.
Wie groß, wie unvermeidlich das kleinbürgerliche Wanken und Schwanken der nichtproletarischen und
halbproletarischen Massen der werktätigen Bevölkerung zurück zur bürgerlichen "Ordnung", zurück
unter die "Fittiche" der Bourgeoisie auch sein mag, sie können dennoch nicht umhin, die moralische
und politische Autorität des Proletariats anzuerkennen, das nicht nur die Ausbeuter stürzt und
ihren Widerstand bricht, sondern auch eine neue, eine höhere gesellschaftliche Bindung,
gesellschaftliche Disziplin schafft: die Disziplin bewußter und vereint arbeitender Menschen, die
über sich keine Gewalt kennen und keine Macht außer der Macht ihrer eigenen Vereinigung, ihrer
eigenen bewußteren, kühnen, festgefügten, revolutionären, standhaften Avantgarde.
Um zu siegen, um den Sozialismus zu schaffen und zu festigen, muß das Proletariat eine doppelte
oder zweieinige Aufgabe lösen: erstens die ganze Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten mitreißen
durch seinen grenzenlosen Heroismus im revolutionären Kampf gegen das Kapital, sie mitreißen, sie
organisieren, sie führen, um die Bourgeoisie niederzuwerfen und jeden Widerstand der Bourgeoisie
vollständig zu brechen; zweitens die ganze Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten sowie alle
kleinbürgerlichen Schichten auf den Weg eines neuen wirtschaftlichen Aufbaus führen, auf den Weg
der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Bindung, einer neuen Arbeitsdisziplin, einer neuen
Arbeitsorganisation, die das letzte Wort der Wissenschaft und der kapitalistischen Technik
vereinigt mit dem Massenzusammenschluß bewußt arbeitender Menschen, die die sozialistische
Großproduktion ins Leben rufen.
Diese zweite Aufgabe ist schwieriger als die erste, denn sie kann keinesfalls durch den Heroismus
eines einzelnen Ansturms gelöst werde», sondern erfordert den andauerndsten, hartnäckigsten,
schwierigsten Heroismus der alltäglichen Massenarbeit. Diese Aufgabe ist aber auch wesentlicher
als die erste, denn in letzter Instanz kann die tiefste Kraftquelle für die Siege über die
Bourgeoisie und die einzige Gewähr für die Dauerhaftigkeit und Unumstößlichkeit dieser Siege nur
eine neue, eine höhere gesellschaftliche Produktionsweise sein, die Ersetzung der kapitalistischen
und der kleinbürgerlichen Produktion durch die sozialistische Großproduktion.
Die "kommunistischen Subbotniks" sind gerade deshalb von gewaltiger historischer Bedeutung, weil
sie uns die bewußte und freiwillige Initiative der Arbeiter bei der Entwicklung der
Arbeitsproduktivität, beim Über-gang zu einer neuen Arbeitsdisziplin, bei der Schaffung
sozialistischer Wirtschafts- und Lebensbedingungen zeigen.
Einer der wenigen - richtiger dürfte es sogar sein zu sagen: einer der außerordentlich seltenen -
bürgerlichen Demokraten Deutschlands, die nach den Lehren der Jahre 1870 und 1871 nicht zum
Chauvinismus und nicht zum Nationalliberalismus, sondern zum Sozialismus übergingen, J. Jacoby,
hat gesagt, die Gründung eines einzigen Arbeitervereins sei von größerer historischer Bedeutung
als die Schlacht bei Sadowa. Das ist richtig. Die Schlacht bei Sadowa entschied die Frage, welcher
der beiden bürgerlichen Monarchien, der österreichischen oder der preußischen, bei der Schaffung
des deutschen kapitalistischen Nationalstaates die Vorherrschaft zufallen solle. Die Gründung auch
nur eines Arbeitervereins war ein kleiner Schritt zum Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie
im Weltmaßstab. So können auch wir sagen, daß der erste, am 10. Mai 1919 von den Eisenbahnarbeitern
der Moskau-Kasaner Strecke in Moskau veranstaltete kommunistische Subbotnik von größerer
historischer Bedeutung ist als ein beliebiger Sieg Hindenburgs oder Fochs und der Engländer im
imperialistischen Krieg 1914-1918. Die Siege der Imperialisten bedeuten die Abschlachtung von
Millionen Arbeitern um der Profite der englischamerikanischen und französischen Milliardäre willen,
sie sind Bestialitäten des untergehenden, überfressenen, bei lebendigem Leibe verfaulenden
Kapitalismus. Der kommunistische Subbotnik der Eisenbahnarbeiter der Moskau-Kasaner Strecke ist
eine der Keimzellen der neuen, der sozialistischen Gesellschaft, die allen Völkern der Erde die
Befreiung vom Joch des Kapitals und von den Kriegen bringt.
Die Herren Bourgeois und ihre Schleppenträger, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre
einbegriffen, die sich als Vertreter der "öffentlichen Meinung" zu betrachten pflegen, machen sich
selbstverständlich über die Hoffnungen der Kommunisten lustig, nennen diese Hoffnungen einen
"Affenbrotbaum im Resedatopf", lachen über die geringe Zahl der Subbotniks im Vergleich zu den
massenhaften Fällen von Unterschlagung und Müßiggang, sinkender Produktivität, des Verderbens von
Rohstoffen und Produkten usw. Wir antworten diesen Herrschaften: Käme die bürgerliche Intelligenz
mit ihren Kenntnissen den Werktätigen zu Hilfe, und nicht den russischen und ausländischen
Kapitalisten, um deren Macht wiederherzustellen, so würde sich die Umwälzung rascher und friedlicher
vollziehen. Das ist jedoch eine Utopie, denn die Frage wird durch den Kampf der Klassen entschieden,
und die Mehrheit der Intelligenz fühlt sich zur Bourgeoisie hingezogen. Nicht mit Hilfe der
Intelligenz, sondern trotz ihres Gegenwirkens (wenigstens in den meisten Fällen) wird das
Proletariat siegen, indem es die unverbesserlich bürgerlichen Intellektuellen beiseite schiebt,
die Schwankenden ummodelt, umerzieht, sie sich unterordnet und allmählich einen immer größeren
Teil von ihnen für sich gewinnt. Die Schadenfreude über die Schwierigkeiten und Mißerfolge der
Umwälzung, die Panikmacherei, die Propagierung einer Kehrtwendung - all das sind Mittel und
Methoden der bürgerlichen Intelligenz im Klassenkampf. Das Proletariat wird sich dadurch nicht
täuschen lassen.
Nimmt man aber das Wesen der Frage - ist es denn jemals in der Geschichte vorgekommen, daß eine
neue Produktionsweise mit einem Schlage Fuß gefaßt hätte, ohne eine lange Reihe von Mißerfolgen,
Fehlern, Rückschlägen? Noch ein halbes Jahrhundert nach dem Fall der Leibeigenschaft waren im
russischen Dorf nicht wenig Überbleibsel der Leibeigenschaft zurückgeblieben. Ein halbes
Jahrhundert nach der Aufhebung der Negersklaverei in Amerika glich die Lage der Neger dort auf
Schritt und Tritt noch halber Sklaverei. Die bürgerliche Intelligenz, darunter auch die Menschewiki
und die Sozialrevolutionäre, bleibt sich selber treu, wenn sie dem Kapital dient und sich weiter
einer durch und durch verlogenen Argumentation bedient: Vor der Revolution des Proletariats warfen
sie uns Utopismus vor, und nach der Revolution verlangen sie von uns eine phantastisch schnelle
Beseitigung der Spuren der Vergangenheit!
Aber wir sind keine Utopisten und kennen den wahren
Wert der bürgerlichen „Argumente", wir wissen auch, daß die Spuren des Alten in den Sitten eine
gewisse Zeit nach dem Umsturz unvermeidlich die Keime des Neuen überwiegen werden. Wenn das Neue
eben erst entstanden ist, bleibt das Alte stets eine gewisse Zeit lang stärker; das ist immer so,
sowohl in der Natur als auch im Leben der Gesellschaft. Hohn darüber, daß die Keime des Neuen
schwach sind, billiger Intellektuellen-Skeptizismus und dergleichen mehr, all das sind im Grunde
Methoden des Klassenkampfes der Bourgeoisie gegen das Proletariat, ist Verteidigung des
Kapitalismus gegen den Sozialismus. Wir müssen die Keime des Neuen sorgfältig untersuchen, ihnen
die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, mit allen Mitteln ihr Wachstum fördern und diese
schwachen Keime "hegen und pflegen". Es ist unvermeidlich, daß einige von ihnen zugrunde gehen
werden. Man kann keine Garantie dafür übernehmen, daß gerade die "kommunistischen Subbotniks" eine
besonders wichtige Rolle spielen werden. Nicht darauf kommt es an. Worauf es ankommt, das ist die
Unterstützung aller und jeder Keime des Neuen, von denen das Leben die lebensfähigsten auslesen
wird. Wenn ein japanischer Gelehrter, um der Menschheit zu helfen, die Syphilis zu besiegen, die
Geduld hatte, 605 Präparate auszuprobieren, bis es ihm gelang, ein 606. Präparat herzustellen,
das bestimmten Anforderungen genügte, so müssen diejenigen, die eine noch schwierigere Aufgabe
lösen wollen, die den Kapitalismus besiegen wollen, Ausdauer genug haben, um Hunderte und Tausende
neuer Methoden, Verfahren, Kampfmittel auszuprobieren, um die geeignetsten von ihnen
herauszuarbeiten.
Die „kommunistischen Subbotniks" sind deshalb so wichtig, weil sie von Arbeitern begonnen worden
sind, die durchaus nicht in besonders guten Verhältnissen leben, von Arbeitern verschiedener
Berufe, darunter auch von Arbeitern ohne Fachkenntnisse, von ungelernten Arbeitern, die in den
gewöhnlichen, d. h. den allerschwierigsten Verhältnissen leben. Wir alle kennen sehr gut die
Hauptursache für das Sinken der Arbeitsproduktivität, das nicht in Rußland allein, sondern in der
ganzen Welt zu beobachten ist: Ruin und Verelendung, Erbitterung und Müdigkeit, hervorgerufen
durch den imperialistischen Krieg, Krankheiten und Unterernährung. Die letztere nimmt ihrer
Wichtigkeit nach die erste Stelle ein. Der Hunger - das ist die Ursache. Um aber den Hunger zu
beseitigen, ist eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität sowohl in der Landwirtschaft als auch im
Verkehrswesen und in der Industrie notwendig. Es ergibt sich also eine Art Circulus vitiosus:
Um die Arbeitsproduktivität zu heben, muß man sich vor dem Hunger retten, und um sich vor dem
Hunger zu retten, muß man die Arbeitsproduktivität heben.
Bekanntlich werden derartige Widersprüche in der Praxis dadurch gelöst, daß dieser Circulus
vitiosus durchbrochen wird dank einem Umschwung in der Stimmung der Massen, dank der heroischen
Initiative einzelner Gruppen, die im Rahmen eines solchen Umschwungs nicht selten eine
entscheidende Rolle spielt. Die Moskauer ungelernten Arbeiter und die Moskauer Eisenbahner
(natürlich ist die Mehrzahl gemeint und nicht das Häuflein Spekulanten, Direktionsbürokraten und
ähnliches weißgardistisches Gesindel) sind Werktätige, die unter fürchterlich schweren Bedingungen
leben. Dauernde Unterernährung und jetzt, vor der neuen Ernte, angesichts der allgemeinen
Verschlechterung der Ernährungslage, geradezu Hunger. Und da veranstalten diese hungernden Arbeiter,
umgeben von einer Atmosphäre böswilliger konterrevolutionärer Agitation der Bourgeoisie, der
Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, "kommunistische Subbotniks", leisten ohne jede Bezahlung
Überstundenarbeit und Erreichen eine ungeheure Erhöhung der Arbeitsproduktivität, obwohl sie müde,
abgerackert, durch Unterernährung erschöpft sind. Ist das etwa nicht das größte Heldentum? Ist das
etwa nicht der Anfang einer Wendung, der weltgeschichtliche Bedeutung zukommt?
Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende für den
Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus hat eine Arbeitsproduktivität geschaffen,
wie sie unter dem Feudalismus unbekannt war. Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und
wird dadurch endgültig besiegt werden, daß der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität
schafft. Das ist ein sehr schwieriges und sehr langwieriges Werk, aber man hat damit begonnen,
und das eben ist das allerwichtigste. Wenn im hungernden Moskau im Sommer 1919 hungernde Arbeiter,
die vier schwere Jahre imperialistischen Krieges, dann anderthalb Jahre noch schwereren
Bürgerkriegs durchgemacht haben, imstande waren, dieses große Werk zu beginnen, wie wird da die
weitere Entwicklung aussehen, wenn wir erst im Bürgerkrieg gesiegt und den Frieden erkämpft haben
werden?
Gegenüber der kapitalistischen Arbeitsproduktivität bedeutet der Kommunismus eine höhere
Arbeitsproduktivität freiwillig, bewußt, vereint schaffender Menschen, die sich der
fortgeschrittenen Technik bedienen. Die kommunistischen Subbotniks sind außerordentlich wertvoll
als faktiseher Beginn des Kommunismus, und das ist etwas ganz Seltenes, denn wir befinden uns auf
einer Stufe, da "lediglich die ersten Schritte zum Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus getan
werden" (wie es sehr richtig in unserem Parteiprogramm heißt).
Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend,
sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz eines jeden Puds
Getreide, Kohle, Eisen und anderer Produkte, die nicht den Arbeitenden persönlich und nicht den
ihnen "Nahestehenden" zugute kommen, sondern "Fernstehenden", d. h. der ganzen Gesellschaft in
ihrer Gesamtheit, den Dutzenden und Hunderten Millionen von Menschen, die zunächst in einem
sozialistischen Staat vereinigt sind und später in einem Bund von Sowjetrepubliken vereinigt
sein werden.
8. April 1920.
Veröffentlicht in der Zeitung
"Kommunistitscheskij Subbotnik",
11. April 1920.
W. I. Lenin, Werke, Bd. XXX.
Auszug aus:
W.I.Lenin - Werke,
Band 29, S. 408 - 417
(März-August 1919)
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976
Die große Initiative