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Erich Köhler
Stellungnahmen
Erich Köhler ca. 1990


Rede-Manuskript zur Jugendweihe 1992

Initiation

I.
Liebe Mädel und Jungen,

die INITIATION, das heißt Einweihung zum Übergang aus der Jugend in den Kreis der Erwachsenen hat eine lange Geschichte. Unsere Altvordern in dem großen indo-europäischen Kulturkreis teilten ihre Lebenswelt in streng von einander getrennte Räume. In den Bergen, Wäldern, Gewässern, Tieren, Pflanzen wohnten die Geister oder Götter. Erst viel später wurden die Götter in den Himmel gedacht und die Teufel in die Hölle.

Auch die Lebensbereiche der Menschen wurden auseinandergehalten. Die Erwachsenen waren für Ernährung, Fortpflanzung und Schutz der Gemeinschaft verantwortlich. Aufgabe der Alten waren die Weitergabe von Erfahrungen in Form von Bräuchen, Riten, Erzählungen und Mythen.

Der Tod bedeutete kein Hinscheiden, sondern Übergang in das Reich der Ahnen. Diese überwachten unsichtbar und allgegenwärtig die Sittlichkeit der Lebenden. - Gott sieht alles, hieß es noch zu meiner Zeit im Religionsunterricht.

Überhaupt sind alle Religionen, Künste, Technik nichts als Widerspiegelungen gesellschaftlicher Verhältnisse. JUGENDWEIHE bedeutet Ertüchtigung im Interesse von Stamm, Volk, Klasse, bestimmter Sonderschichten wie Adel oder, in Form der Priesterweihe, verschiedenen Religionskasten.

Ich kenne nur das arbeitende Volk und an dessen Jugend wende ich mich.

Kein Erdenbürger konnte jeweils nach Belieben in einen anderen Lebensabschnitt überwechseln. Voraussetzung für die Grenzüberschreitung in das Reich der Ahnen war der Tod. Voraussetzung für den Wiedereintritt aus der Ahnenreihe in das Leben war die Geburt. Wurde ein Kind geboren, so hieß das: Unser Urahn ist zurückgekehrt.

Darum gibt man zum Teil noch heute dem Kinde den Namen seiner Groß- oder Urgroßeltern. Noch im 14. Jahrhundert warteten die Menschen auf die Wiederkehr des Jesus von Nazareth, der nur zeitweilig in den Himmel gefahren sei. Dieser Glaube geht auf den Ahnenglauben zurück.

Wie aber konnte ein junger Mensch in den Kreis der Erwachsenen übertreten? Ganz einfach: Das Mädchen, der Junge mußte zuvor sterben, symbolisch. Dazu wurde der Betroffene harten Prüfungen unterworfen. In dem für seine strenge Zucht berühmt und berüchtigt gewordenen SPARTA wurden die Jünglinge gegeißelt. Der griechische Historiker PLUTARCH ( um 50 unserer Zeitrechnung ) berichtete, er habe bei diesen barbarischen Züchtigungen mit eigenen Augen verschiedene Knaben wirklich sterben sehen, ohne daß diese einen Laut von sich gaben. Auch die Mädchen wurden rigoros behandelt,um nicht zu sagen mißhandelt. Am Ende schnitt man ihnen zum Zeichen ihrer Reife die Zöpfe ab.

Der Sinn dieser ORDALIEN, das kommt vom altgriechischen "ordein" und heißt soviel wie den Grundrahmen für ein Gewebe anlegen, bestand darin, daß die Kandidaten durch Furcht, Schmerz und Todesahnung für die Auferstehung im Erwachsenen­stand gereinigt werden sollten. Der ursprünglich produktionstechnisch entstandene Ordnungsbegriff wurde hier auf das Geflecht der gesellschaftlichen Beziehungen übertragen. Die Jugend wurde auf diese Weise eingeordnet. Dahinter steht aber eine Gefügigmachung. Das unbeschwerte Jugendhafte im Menschen sollte gebrochen, das neue Mitglied willfährig allen Stammespflichten unterworfen werden. Niemand sollte diese Tradition unterschätzen, er versteht sonst die Entwicklungsgeschichte menschlichen Denkens nicht.

Ihr also werdet heute in die Welt der Eingeweihten aufgenommen. Das heißt im überkommenen Sinne: Ihr sterbt zur Stunde, ob Euch gleich niemand extra dafür ein Leid angetan hat, und geht hernach in das neue Leben über. Anstatt der Schmerzen des Fleisches sollt Ihr die Schmerzen des Wissens empfangen, das Euch fortan plagen, aber auch zu neuer Tatkraft erwecken soll. Denn Ihr betretet keine heile Welt.

Dabei ist es nicht so, daß nur ihr Jungen von der Aufnahme zu den Erwachsenen etwas erwartet: Eröffnung neuer Horizonte, Erwerbsleben, Familienplanung, - sondern jene erwarten ihrerseits von Euch den Zustrom frischer Kräfte. Laßt Euch das jugendliche Übermaß an Gefühlen, Unbestechlichkeit, rebellische Ungeduld nicht nehmen oder gar abkaufen.

Worin besteht nun aber das große Erwachsenengeheimnis, das den Weihlingen enthüllt wurde? Es bestand in dem Vorzeigen geweihter Gegenstände: KONOS und RHOMBOS, wie es in der Überlieferung heißt. Das waren simple Arbeitsinstrumente. Der Konos war eine Spindel zum Spinnen für die Mädchen, der Rhombos, den die Jungen zu sehen kriegten, erinnert noch heute an die Form einer Speerspitze. Tatsächlich waren die Mädchen von da ab an Spinnstock und Webgestell verwiesen. Die jungen Männer wurden zum Kriegsdienst abgerichtet.

Die APOKALYPSIS, wie dieser Enthüllungszauber genannt wurde, erwies sich als Einweihung in die Arbeitsteilung der Geschlechter. Bis auf den heutigen Tag stehen in Spinnereien und Webereien, sofern sie nicht arbeitslos sind, vorwiegend Frauen und Mädchen an den Maschinen.

II.
Was für ein großes Geheimnis wird man Euch heute enthüllen? In manchen Ansprachen zur Jugendweihe werden die jungen Leute aufgefordert, die Chancen, die die neue Gesellschaft bietet, zu nutzen. Aber ist das denn wirklich eine neue Gesellschaft? Hat wirklich jeder eine Chance? Tatsächlich haben doch die Mädchen heute weniger Chancen als zuvor.

Heute kann nur wer viel hat, noch mehr zusammenraffen. Das Weltbild eines Großgrundbesitzers oder Großaktionärs sieht anders aus als das Weltbild eines Besitzlosen. Bei Franz KAFKA, einem berühmten spätbürgerlichen Schriftsteller, heißt es: »Keiner schafft mehr als seine geistigen Möglichkeiten.« Stimmt das? Alle Möglichkeiten für den gesellschaftlichen Aufstieg sind doch längst nach den finanziellen Startbedingungen geordnet. Den Kindern ärmerer Schichten bleiben in aller Regel die hinteren Plätze.

Ich will euch ein Geheimnis offenbaren, das vor aller Augen ausgebreitet liegt: Unsere Vorfahren lebten kärglich inmitten einer reichen Natur. Wir in den hochentwickelten Industriestaaten wähnen uns reich in einer ganz verbrauchten Natur. Die Wälder sterben, Luft und Gewässer sind verschmutzt, viele Tierarten sind ausgerottet, und täglich verschwinden weitere für immer aus dieser Welt. Eine Handvoll reicher Staaten verjuxen schon heute die Lebensgrundlage aller Nachkommen auf der Erde.

Früher schieden sich die Menschen gewissermaßen in zwei Nationen, in die Nation der Lebenden und in die der Ahnen. Heute grassiert überall der Nationalismus. Jedes Volk dünkt sich edler als das benachbarte.

Dabei scheiden sich doch alle Menschen wieder nur in zwei Hauptnationen: In die Nation der Reichen und in die Nation aller Armen, der Besitzenden und der Besitzlosen. Dazwischen pendeln ein paar Mittelschichten, die nicht wissen, wohin sie gehören. Dies ist das große Geheimnis, das offen zutage liegt. Es zu entschlüsseln, die Gegensätze aufzulösen in eine Gesellschaft mit gleichen Chancen für alle, und mit Überlebensmöglichkeit auch für die Natur, das ist die große Aufgabe, die vor Euch liegt und nicht mehr auf kommende Geschlechter vertagt werden kann. Dabei muß, wie der große Humanist Albert SCHWEITZER schrieb, der unkritischen Annahme entgegengetreten werden, die Herrschenden verdankten ihre Macht einer natürlichen Fähigkeit zu regieren. Diese Annahme leistet nur einer neuen Form des Rassismus vorschub, wo die Menschen in das kleine kluge Rudel der Elite und das große dumme Heer der Untergebenen aufgeteilt wird.

III.
Indem ich dieses sage, so weihe ich Euch ein in das Geheimnis des Erwachsenendaseins. Es ist der Kampf um die Menschenwürde gegen jede Fremdbestimmung, ganz gleich, ob diese von der Macht einzelner Diktatoren oder von der anonymen Macht des großen Geldes ausgeht. Skeptiker sehen in diesem Kampf die Verblendung in eine Utopie. Der geistreiche Schriftsteller Oscar WILDE hingegen erklärte: »Keine Weltkarte ist eines Blickes würdig, auf der nicht das Land Utopia eingezeichnet ist.« Der Begriff der Utopie muß längst mit NOTWENDIGKEIT übersetzt werden.

Manch einer sagt: Was kann ich als Einzelner tun?- Die EINSTEINianer haben das Prinzip der Homogenität und Isotropie entdeckt. Das heißt: Es gibt weder im Kosmos noch auf dem Erdball einen bevorzugten Punkt oder eine bevorzugte Richtung. Das bedeutet weiter: Jeder ist sich selbst der Nächste aber auch Bezugspunkt und Erlebnis für alle anderen.

Welches wäre denn nun das wahre Leben? Die Jagd nach Reichtum, Ruhm, persönlicher Macht erzeugt ein Gegen- statt  Miteinander. Von Jesus Christus wird der Spruch überliefert: »Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als ein Reicher in den Himmel kommt.« Da träumt manch einer vom Himmel, und vergißt, daß uns Gott oder die Natur die Erde zu treuen Händen anvertraut hat. Aus der Bibel stammt die Geschichte von NOAH, dem Gott befahl, in einem schwimmenden Kasten von jeder Tierart ein Pärchen über die Sintflut zu retten.

Die große Flut galt der Austilgung ungerechter Menschen. Da heute viele der damals so phantastisch geretteten Tiere menschlicher Profitgier oder Unvernunft zum Opfer gefallen sind, so folgt daraus, daß die Vernichtung der Ungerechten nicht nur nicht gelungen ist, sondern daß jene sogar die Welt beherrschen.

Gegenwärtig gibt es zwei Prinzipien, das aristokratische und das Volksprinzip. Das aristokratische Prinzip lautet: Teile und herrsche! Das Volksprinzip lautet: Vereinige und herrsche! Dazu gebe ich Euch ein ORAKEL mit auf den Weg. Es stammt von dem sagenhaften altgriechischen Philosophen EMPEDOKLES:

Teils wird alles durch die Liebe vereint
Teils wird alles durch Haß entzweit
Völlige Vereinigung ist Stillstand, Tod
Völlige Trennung ist Stillstand, Tod
Wie sich nun alles teils trennt
teils vereint, so sind die Dinge
und haben kein ewiges Leben

Es gibt keine Weihe ohne Orakel. Deshalb will ich diesen Sinnspruch nicht erläutern. Wie einst in der düsteren griechischen Initiationshalle das sogenannte ELEUSISCHE MYSTERIUM, eine Fackel, als Symbol der Erleuchtung aufloderte, so komme diese Flamme als Ergebnis des eigenen Nachdenkens in Euren Köpfen und Herzen auf. Alles Wesentliche dazu ist gesagt.

Die Älteren vermachen Euch nicht nur eine problematisierte Welt, sie haben auch selbst zu allen Zeiten so tapfere Versuche unternommen wie Spartakus oder Thomas Müntzer und seine Scharen, die das Himmelreich schon auf Erden errichten wollten. Es gab immer leuchtende Vorbilder des Geistes und der Tat, und sie haben ihr Licht oft genug mit dem Leben bezahlt. Heute muß erst recht ein jeder seine Existenz auf Erden vor sich selbst, vor seinen Nächsten und Fernsten, und der Natur gegenüber jeden Tag aufs Neue durch sein Denken und Tun rechtfertigen. Denn dazu ist er Mensch. Es kommt nicht darauf an, die Welt zu erklären, sondern darauf, sie zu verbessern.

Glück auf !

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7.Der Entsager

In diesem Kapitel seines »Sture und das deutsche Herz« beschreibt E. Köhler eine Initiation, wie sie sich bei den Älvgauten zugetragen haben mag.