Ästhetik der Kunst
Auszug aus Kapitel 3
Ästhetische Wertung und
Wahrheitsanspruch der Künste

Titelblatt »Ästhetik der Kunst«

Autoren:
Erwin Pracht (Leiter des Autoren­kollektivs), Michael Franz, Wolfgang Heise, Karin Hirdina, Rainhard May, Günter Mayer, Ulrich Roesner
Redaktion:
Michael Franz, Karin Hirdina, Rainhard May, Erwin Pracht, Ulrich Roesner
1. Kapitel: Ulrich Roesner, Günter Mayer
2. Kapitel: Erwin Pracht, Karin Hirdina, Rainhard May
3. Kapitel: Michael Franz
4. Kapitel: Karin Hirdina, Erwin Pracht / Wolfgang Heise
Exkurse: Wolfgang Heise
5. Kapitel: Erwin Pracht
Ästhetik der Kunst / [Autoren: Erwin Pracht (Leiter d. Autoren­koll.)...]. - Berlin: Dietz Verl., 1987. - 683 S. ISBN 3-320-00920-6
Lektoren: Andrée Fischer, Ursula Schirmer
Korrektoren: Sigrid Hornig, Konstanze Ultsch
Umschlag: Gerhard Medoch
Typographie: Sylvia Claus
Printed in the German Democratic Republic
Herstellung: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig, Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit, III/18/97

3.3.
 
Die Erhabenheit des Widerstands

Daß Leben und Sterben, Denken und Dichten des Seneca ein heute wie­der aktuelles Thema sein kann, beweisen das Seneca-Stück und der dazu­gehörige Essay von Peter Hacks. Hacks hält es angesichts der gebündel­ten, zum Teil extrem zugespitzten Widersprüche in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab nicht für überflüssig, sich mit Senecas Stoizismus und dessen inneren Widersprü­chen zu beschäftigen. Nicht ganz zutreffend nennt Hacks Seneca den Ver­treter einer Humanitätslehre, »die mit der römischen Wirklichkeit allen­falls in der Hinsicht zu tun hatte, daß sie sie aus ihrer Rechnung ausschloß« . /44/

Doch die allgemeinen Normen des Verhaltens, die Seneca empfiehlt, sind dieser Wirklichkeit entsprechend modifiziert. Als Normen einer vor allem naturphilosophisch begründeten Vernunft sind sie gegen die gelten­den Normen der Unvernunft, des krankhaften Abfalls von der gesetzmäßi­gen Ordnung der Natur gerichtet: Seneca lehrt eine illusionslose, nüch­terne Betrachtung der römischen Wirklichkeit, während er gleichzeitig die Illusion verbreitet, man könne sich durch Affekt­losigkeit, Gefaßtheit, Selbstbeherrschung von der Wirklichkeit unabhängig machen, indem man Mühen und Leiden tapfer und geduldig auf sich nimmt: eine innere Souveränität, die in krassen Gegensatz geraten kann zu äußerer Ohn­macht. Insofern erscheint es als einigermaßen befremdlich, wenn Hacks in seinem Seneca-Essay schreibt: »Seneca, wie er oder man sagt, verschied in jener erhabensten unter den Haltungen, die wir einfach Haltung nen­nen. Haltung ist die Vorwegnahme menschlicher Selbstbestimmung auf geschichtliche Lagen, auf Lagen also, die keine anderen sein können als aufgezwungene; der Mensch, der Haltung hat, verhält sich als Erwachse­ner, während die Umstände die Menschheit noch gängeln. Alles mündige und eigen­verantwort­liche Betragen ist Vorwegnahme, ist eine Form der Hoffnung. Anders als in die Aufführung von Gesell­schaften, die durch zu viel Siege oder zu viel Niederlagen dahin gebracht sind, sich seelisch zu vernach­lässigen, paßt die Haltung Haltung in den Wertzusammenhang des Bolschewismus. Wir benötigen ihrer im Kampf, im Unglück und im Glück ...« /45/. Hacks sucht sie aber künstlerisch sinnfällig zu machen im Tod. Selbst wenn man die ironischen Brechungen berücksichtigt, die in Hacks' Texten immer mitspielen, erschreckt die Abstraktheit der »Hal­tung Haltung«, zu der sich Hacks bekennt. Man kann auch nur schwer absehen vom inneren Zusammenhang von Haltungsmoral und Preußen­tum, womit sich Fontane ebenso auseinandergesetzt hat wie Thomas Mann im »Tod in Venedig«. Bezeichnend ist auch Hacks' Hinweis auf ge­schichtliche Lagen, die schlechthin als aufgezwungene verstanden werden. Doch Hacks betont zugleich, daß er die »Haltung Haltung« eingebunden wissen will in den »Wert­zusammen­hang des Bolschewismus« - so einge­ordnet erscheint »Haltung« als rationale Selbst­kontrolle, die kein isolier­ter Wert ist, sondern des Bezugs auf inhaltliche Grund­werte bedarf. Hacks äußert sich auch zu dem wiederholt vermerkten angeblichen Wi­derspruch zwischen Senecas Tugend­lehre und seinen Tragödien, die im Grunde Dramen des Schrecklichen sind. »Senecas Trauerspiele sind bei­spielhaft für alle Niedergangskunst. Als einsamer Versuch, die Hervor­­bringungen der griechischen Klassiker fortzusetzen, zeigen sie die be­zeichnenden Mängel schrift­stellerischer Nach­treterei: Ursachen­durchein­ander und Fabel­beliebigkeit, Form­wucherung und Form­ekel, Reiz­auftür­mung und Wirk­sucht. Den Vorbildern hinzugefügt wird nur eines: eine langweiligste Breite im Bereich der Einzelheiten, insonders der unange­nehmen. Solche Maß­losigkeit im Schmerzlichen vereinbart sich in der Tat schwer mit der selbstverständlichen Tüchtigkeit des wirkenden und der unerschütterlichen Sitten­strenge des ratschlag­erteilenden Seneca. « /46/ In welchem Maße Seneca in seinen Dramen ein Bild der römischen Wirk­lichkeit gibt, ihren Sinnbefund, fragt Hacks nicht. In Hacks' Stück »Tod des Seneca«, das wie eine Boulevard­komödie mit geistreichen Dialogen und scharfen Pointen abläuft, in einer gehobenen Verssprache, die unter­gründig parodiert wird, wird die »Haltung Haltung« alltäglicher Wirk­lichkeit ausgesetzt und letztlich als gefaßte Hilflosigkeit anders als im Es­say ad absurdum geführt. Das Schreckliche kleidet sich in eine philosophische Anfrage, in der Nero den von antineronischen Verschwö­rern als Mitwisser preisgegebenen Seneca zur Selbsttötung verurteilt: »Der Lehrling in der Tugend, der alle erhabeneren Begriffe seinem Mei­ster verdankt, ist beim Wiederlesen von dessen Darlegung über das rechte Sterben des Weisen von nicht geringer Neugier befallen, ob solche Stand­haftigkeit im wirklichen Leben so mustergültig sich antreffen lasse wie in den Rollen, die auf dem Pult liegen, und wünscht, bis zum Anbruch der Nacht Unterricht in dieser Frage zu erhalten .« /47/

Die Haltung, die Seneca bewahrt, ist keineswegs abstrakte Gefaßtheit, sondern Entschlossenheit, die auf höchst­mögliche Entfaltung seiner gei­stigen Produktivität abgestimmte strenge Zeiteinteilung und planvolle Le­bensführung bis zum äußersten zu verteidigen. Daran wird er jedoch stän­dig gehindert - durch eitle Besucher, selbstbewußte Handwerker, die frisch erwachte Streitlust seiner Frau. Der Plan widerlegt sich selbst. Das letzte Gastmahl, das den höchsten Fragen gelten soll, ist ein einziger Fehlschlag: Seneca wird zu lächerlichen Schutzbehauptungen genötigt, muß die Eitelkeiten seiner Frau und seiner Besucher befriedigen, sein Verleger will ihn um das Honorar betrügen. »Und statt vom Heilig-Ho­hen sprachen wir vom Sumpf«. Seneca stirbt mit der offenen Frage: »Wie kann man leben?« Wenn im Verlaufe des Stücks die Worte fallen: »Hal­tung ist der letzte Halt« /48/, dann ist das eine komische Pointe, die kaum mehr überboten werden kann: das Stück ist eine Tragikomödie der »Hal­tung Haltung«. Wenn in Aufführungen dieses Stücks nicht die Anwesen­heit des Schrecklichen mitinszeniert wird, wenn den Zuschauern nicht im­mer wieder das Lachen im Halse steckenbleibt, dann wird es verfehlt.

Wenn in der »Ästhetik des Widerstands« der Widerstand Erhabenheit gewinnt, dann ist es etwas anderes als die von Hacks gerühmte Erhaben­heit der »Haltung Haltung«. Die Ästhetik des Widerstands ist keine Ästhetik der Haltung. Weiss stellt dem Schrecklichen des Faschismus und Imperialismus nicht lediglich die subjektive Größe stoischer Selbstüber­windung entgegen, die passive Seite der Tapferkeit, die sich in der Geduld zeigt, in der auch die schrecklichsten Prüfungen ertragen werden. Bestand das Schreckliche darin, »daß da Mächte am Werk waren, Menschen in ge­waltigen Mengen niederzumetzeln«, so lag das Erhabene bereits darin, »daß einige sich daran gemacht hatten, diesen Taten entgegenzuwirken, und das Denkwürdige daran war wiederum nicht, daß sie kaum vernehmbar, daß sie so unscheinbar waren, sondern daß es sie überhaupt gab, daß sie den Verfolgungen entgangen, daß sie nicht in die Fallen geraten wa­ren, daß sie sich miteinander verständigten und geheime Wege zueinan­der fanden, um gemeinsam zu planen« . /49/ Nicht das Schreckliche ist daher das Wesentliche, das Ausschlaggebende, sondern der Widerstand. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur Ästhetik des Schreckens. Nicht die Schockeffekte der Schreckens­darstellungen bestimmen das Wirkungs­konzept, sondern die Ausstrahlung der Wider­stands­handlungen. »Das Wichtige, das alles Überschattende war nicht das fortwährende Zerber­sten und Zusammen­brechen, sondern die Anstrengung, mitten im Dröh­nen, Geschrei und Röcheln auszuharren.« /50/

Dem Widerstand wohnte die konkrete Vernünftigkeit der Über­einstim­mung mit der geschichtlichen Notwendigkeit inne. »Doch der Vernunft, als Leitfaden der Arbeit, widersprach vieles.« /51/ An der Schreck­lichkeit des Schrecklichen bemißt sich die Erhabenheit des Widerstands, zu der daher auch Fehler und Anfechtungen gehörten. »Die Mängel mußten hinzuge­rechnet werden, denn mit ihren Schwächen und Unzuläng­lichkeiten wa­ren sie, die sich hier verbargen, und sie, die im Land drüben aushielten, doch die einzigen, die sich aufgelehnt hatten, um den Gegner zu Fall zu bringen, und sie waren, bei jeder ihrer Bewegungen, aufeinander angewie­sen.« /52/ All dies tut der Erhaben­heit des Widerstands keinen Abbruch: Diese bemißt sich auch an der Tiefe der Verzweiflung, an der Schmerz­haftigkeit der Enttäuschungen, an der Auswirkung des Schrecklichen in den eigenen Reihen. In den Notiz­büchern schreibt Peter Weiss über die Gestaltungs­intention, die sich beim Schreiben des dritten Bandes ent­wickelte: »Von den bisher gewonnenen Begriffen einer Ästhetik aus, die auch Qualitäten wie Menschen­würde, Mut, Ausdauer berücksichtigt, Eigen­schaften, die gerade jetzt (zu ergänzen wäre: gebraucht werden - Die Verf.), da vieles von dem, was wir erstreben, sich im Zerfall befindet, da der Glauben an einen Fortschritt, eine Besserung der Verhältnisse, fußend auf der materialistischen Geschichts­auffassung, von Zweifeln durchsetzt wird, wird versucht, die Erkenntnisse zur Anwendung zu bringen. Es hau­delt sich also nicht länger um die Schilderung des Wegs zu einer Ästhetik des Widerstands, sondern diese Ästhetik liegt der gesamten Anschauung (Bericht, Schilderung) zugrunde. Der Blick wendet sich von dieser Ästhe­tik aus den Geschehnissen zu. Das Motiv des Widerstands ist in der Kunst, wie sie hier beschrieben wurde, von besondrer Wichtigkeit (steht an erster Stelle), da die Schwierigkeiten, die auf den Menschen lasten, ein solches Gewicht angenommen haben, daß es ihnen untragbar scheint.« /53/

Eine Auffassung des Erhabenen, die Schwächen und Unzulänglichkei­ten, Rückschläge und Zweifel einschließt, steht durchaus in Einklang mit Pseudo-Longinos, der das Erhabene keinesfalls als makellos und unan­fechtbar konzipiert hat. Bezogen auf die Literatur schrieb Pseudo-Longi­nos: »Bei dem Natürlich-Großen in der Literatur - hier fällt die Größe nicht mehr aus dem Rahmen von Notwendigkeit und Nutzen - müssen wir entsprechend folgern, daß derartige Menschen, auch wenn sie nicht fehlerfrei sind, sich weit über alles nur Sterbliche erheben. Alle anderen Eigen­schaften erweisen sie als Menschen, das Erhabene hebt sie nahe an die Seelen­größe des Gottes. Was fehler­los ist, wird nicht getadelt, das Große aber zudem bewundert.« /54/ Das Erhabene hat weder mit über­menschlicher Makel­losig­keit noch mit pedantischer Korrektheit etwas zu tun. Mit Fehlern behaftet, ist es zugleich das Nicht-Perfekte, Unfertige, entscheidend ist der produktive Impuls.

Das Erhabene ist etwas anderes als das Schöne; Pseudo-Longinos hätte den Begriff des Erhabenen nicht bemühen müssen, wenn das, was er dar­unter faßt, ohne weiteres im Begriff des Schönen aufginge. Es ist für Pseudo-Longinos vor allem das produktive Übermaß, das Hinausdrän­gende, Grenz­über­schreitende, der Zug ins Unendliche, alles das, was das Schöne sprengt, das ja, geprägt durch die griechische Klassik, in der Form der Geschlossenheit gedacht wurde. Denkt man das Schöne dagegen auch in der Form der Offenheit, dann kann das Erhabene auch als besonders dynamische Form des Schönen verstanden werden. Auf der anderen Seite verarbeitet Pseudo-Longinos Realitäts­erfahrungen, die es schwer machen, überhaupt ein Gegenbild zu entwerfen - es muß der gesell­schaftlichen Unordnung und Dis­harmonie, der Niedrigkeit in allen denkbaren Formen standhalten.

In der »Ästhetik des Widerstands«, spielt das Schön­heits­problem eine entscheidende Rolle, nicht nur als Problem der künstlerischen Gestal­tung, worauf wir noch zu sprechen kommen, sondern in erster Linie als soziale Verhaltens­qualität. Dieser Schönheits­begriff wird keineswegs nur dadurch faßbar, daß ihn der norwegische Spanien­kämpfer und Schrift­steller Grieg in einem charakte­ristischen Handlungs­zusammen­hang als sein Bekenntnis, als persönliche Selbst­behauptungs­formel, ausspricht: »Schönheit ist Handlung.« Das wäre zu wenig. Grieg fügt hinzu: »In der groß­zügigen Tat finden wir Harmonie.« /55/

Selbst wenn es fraglich ist, ob die schöne Tat schon im Wider­stand rea­lisiert wird, ist sie das Ideal, auf das alle Wider­stands­handlungen unausge­sprochen bezogen werden. Die Anstrengung, mitten im Dröhnen, Ge­schrei und Röcheln auszuharren, läßt Groß­zügigkeit im Handeln, auch im Denken und Fühlen, nur im Ausnahme­fall zu. Hinzu kommt: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit /Verzerrt die Züge« /56/ - der Widerstand ist auch durch sein Gegenteil, das Niedrige und Schreckliche, gezeichnet. Da sind Ver­krampfungen und Ver­zerrungen, Mißver­ständnisse und Verdäch­tigungen, Ignoranz und Indolenz. Es ist das Große an Peter Weiss' Ro­man, daß er auch die verhängnis­vollen Irrtümer und Ent­stellungen in den eigenen Reihen zeigt, die Gefährdung der »dritten Sache«, die die Kämp­fenden verbindet, durch Miß­trauen, Geltungs­drang und Selbst­zerflei­schung. Doch diese Widersprüche heben die Erhabenheit des Wider­stands nicht auf: Es muß auch dem Widerschein des Schreck­lichen, seiner Spiegelung in den eigenen Reihen wider­standen werden. Hier verbindet sich das Erhabene in besonderer Weise mit dem Tragischen. Ein so unge­heurer Druck lastet auf den Handelnden, daß die schöne Tat nicht zur Ent­faltung kommen kann, doch als Ideal wird Schön­heit nicht preisgege­ben, sie ist die unge­zwungene Einheit von Sinn und Sinn­lich­keit im menschlichen Handeln, frei von Ver­krampfungen, Ver­zerrungen, Eitel­kei­ten, Winkel­zügen, von Eng­stirnig­keit und Fühl­losig­keit.

Es gibt wenigstens eine Roman­figur, die in ihrem gesamten Denken, Fühlen und Handeln Schön­heit ausstrahlt - das ist Lotte Bischoff. Ihre äußere Er­scheinung ist eher unscheinbar, aber das ist für den auf Tätig­keit gegründeten Schön­heits­begriff sekundär. Als sie in schwedischer Ab­schiebehaft, die Aus­lieferung an die Nazis vor Augen, in Begleitung einer Polizei­schwester die Stadt Stock­holm besichtigen darf, ist es ihr unmög­lich zu fliehen: »Es war, als sei sie beauftragt worden, im Zusammen­sein mit der Schwester eine, wenn auch geringe, Erziehungs­arbeit zu leisten. Sie durfte die Schwester nicht enttäuschen und nicht in ihrem Glauben bestätigen, Kommunisten seien Betrüger und Lügner.« /57/ Diese menschli­che Lauter­keit ist unfaß­bar. »Sie gerate ... in den Konflikt, sagte sie, der dadurch entstehe, daß sie ihre Wider­sacher einer­seits geprägt von ihrer Erziehung sehe, andrer­seits als Hand­langer der Herr­schenden verab­scheue. ... oft habe sie sich dabei ertappt, daß sie sich noch angesichts dessen, der ihr eben den gröbsten Schimpf zukommen ließ, fragte, wie er zu gewinnen sei.«, /58/ Lotte Bischoff ist eine der wenigen Personen des Ro­mans, die lachen können, auch in Situationen der Bedrängnis. Die mit Rück­blenden ver­schränkte Schilderung ihrer illegalen Rück­reise nach Deutsch­land als blinder Passagier auf einem schwedischen Frachter, die ebenso minutiös die äußeren wie die inneren Vorgänge gibt, entwirft ein ergreifendes Gesamt­bild ihrer Persön­lich­keit und gehört zu den Passagen des Buches, die am nach­haltig­sten Mut machen. Lotte Bischoff ist die zentrale Figur des dritten Bandes, da sie über weite Strecken den Ich-Er­zähler ersetzt; es mag nicht unwichtig sein, daß Peter Weiss eine weibliche Figur gewählt hat. Hier kommen feministische Einwände gegen den histo­risch gewordenen Männ­lich­keits­kult ins Spiel: »Die Männer sahn in der Partei ihr Werk. Die Partei war für die Männer der Boden, um zu wach­sen. ... Auch die Männer wollten der Partei ihr Bestes geben. Dabei aber rangen sie unter­einander um Vor­rechte.« /59/ Solche Atavismen findet Lotte Bischoff lächerlich, auch wenn sie sah, wie verhängnis­voll sich der Kampf der Männer untereinander auswirken konnte, vor allem dann, wenn er »ebenso rasend geführt« wurde »wie der gegen den äußern Feind«. Frei von Ver­krampfungen und Ver­zerrungen, von einer unglaub­lichen inneren Sicher­heit und Zuver­sicht erfüllt, geht sie an ihre Aufgabe. »Wie war sie durchtränkt worden von Ein­sichten, wie erleuchtet würde sie sich in ihre neue Region begeben, welcher Kultur, welcher Kunst würde sie dienen, ohne es sich anmerken zu lassen, in gegebnem Fall alles vergessen, so tief vergessen, daß keine Folter es herausholen könnte. Fröhlich, von den Schatten der Lerchen umhuscht, kletterte sie die Leiter empor.« /60/ Es ist für die mimetische Aus­strahlung des Romans ganz besonders wichtig, daß Lotte Bischoff, aktiv beteiligt am illegalen Wider­stand in Berlin, den Un­ter­gang der Gruppe Schulze-Boysen überlebt und den Kampf fortsetzt. Ihr Über­leben hat nicht nur symbo­lische Bedeutung für die Perspek­tive des Romans, der mit einem diskur­sorischen Ausblick auf die kommenden Kämpfe schließt, es bildet zugleich ein starkes mimetisches Gegen­gewicht gegen die nieder­schmetternde Mimesis des Schrecklichen: Ver­zweiflung ist nicht nur nicht das letzte Wort, sondern auch nicht das letzte Bild. Zu­gleich ist Lotte Bischoff eine weibliche Dante-Figur: Mit ihrer Rück­reise nach Deutsch­land beginnt eine Hades­fahrt. Inmitten des Infernos macht sie Auf­zeichnungen, nicht als Beobach­ter, sondern als Mit­kämpferin hin­durchgehend durch ein Reich des Schreckens: »Sie wußte, wie schnell das Vergessen immer wieder zusammen­schlug über denen, die kämpfend um­gekommen waren. ... Deshalb hatte sie alles, was sie vom Dasein und Sterben ihrer Gefährten wußte, in ein kleines Heft eingetragen, das sie je­des Mal wieder unter den Himbeer­sträuchern vergrub.« /61/

Die von zerreißenden Wider­sprüchen, von Anfech­tungen und Unver­einbar­keiten geprägte, dis­harmonisch vom Chaos bedrohte Erhabenheit des Wider­stands zeigen alle bedeutenden anti­faschistischen Werke der so­zialistischen Literatur und der anderen Künste. Exemplarisch hierfür sind die Romane von Anna Seghers ebenso wie die Erzählungen von Stephan Hermlin, dessen formge­wordene Wertung des Wider­stands in seiner scho­nungs­los einge­standenen Wider­sprüch­lich­keit als erhaben in der Vergan­gen­heit vielfach auf Unver­ständnis gestoßen ist. Daß solcher­art Erhaben­heit zur entschei­denden Form­qualität seiner großen Städte­balladen geworden ist, ist ihnen lange Zeit als Manie­rismus ange­lastet worden.

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Fußnoten:
 
44 . .  Peter Hacks: Essais, Leipzig 1984, S.356.
 
45 . .  Ebenda, S.363/364.
 
46 . .  Ebenda, S.356.
 
47 . .  Peter Hacks: Senecas Tod. Schauspiel in drei Akten. Ebenda, S.23.
 
48 . .  Ebenda, S.59, 44.
 
49 . .  Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Dritter Band, S.50.
 
50 . .  Ebenda.
 
51 . .  Ebenda.
 
52 . .  Ebenda, S.50/51.
 
53 . .  Peter Weiss: Notizbücher 1971-1980, 2. Band, S.782.
 
54 . .  Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, S.99.
 
55 . .  Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Erster Band, S.287.
 
56 . .  Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen.
     In: Gedichte, Bd. IV (1934-1941), Berlin 1961, S.150.
 
57 . .  Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Zweiter Band, S.82.
 
58 . .  Ebenda, S.118.
 
59 . .  Ebenda. Dritter Band, S.83.
 
60 . .  Ebenda, S. 91.
 
61 . .  Ebenda, S.230/231.
 

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