Dieter Schiller (Entwurf für eine Rezension, 1977, unveröffentlicht)

Ein Ort hinter den Bergen

Über Erich Köhlers neuen Roman

Ruhm ist ein kleiner Ort "hinter den Bergen", in dem Seltsames vorgeht: Die Geschichte verläuft hier anders. Natürlich nicht grundsätzlich, natürlich nur zeitweise, wie der Erzähler versichert. Deshalb besteht er auf einem Vertrag mit seinen Lesern, der festschreibt, dass "jeder weiß, nach welchen Gesetzen und in welchen Bahnen die allgemeine Entwicklung außerhalb Ruhins bis auf unsere Tage vorangebracht wurde". Wovon hier erzählt wird, ist immerhin die Geschichte der DDR und die Frage, ob denn die Ruhiner "jemals Anschluss an den jeweiligen aktuellen Status ihrer Umwelt finden" werden. Das klingt ziemlich bedenklich, wenn nicht gar ideologisch anrüchig. Die Klarstellung kommt spät, erst zu Beginn des dritten Buches. Sozusagen in letzter Minute erfährt der Leser, dass er es mit einer Art von literarischer Versuchsanordnung zu tun hat - dass er aufgerufen ist, die seltsamen Vorgänge an einem Fleckchen Erde hinter den Bergen im "Spiel der Gedanken" auf ihre Konsequenzen hin durchzudenken.

Zwar wissen wir als Leser nicht, wer der Herr Erzähler ist, vermuten aber (aufgrund seiner Kenntnisse und Überlegungen zu den Gepflogenheiten und Organsationen unseres Landes sowie dem offenbar auch intimeren Umgang mit manchen Personen, die er interviewt), dass wir ihn unbesorgt mit "Genosse" anreden könnten. In der Handlung selbst spielt er keine Rolle, und fast bedenklich oft muss er bekennen, dass seine Belege kaum den Wert von Dokumenten beanspruchen können, weil sie erfunden sind. Es muss sich also um einen Schriftsteller handeln, der das zwar nicht so bedenklich findet, aber immerhin bedenklich genug, um den Leser nicht ganz im Unklaren zu lassen. Einige Interviews, auf die er sich beruft, sind erklärterweise glatt ausgedacht. Man muss fast zweifeln, dass er seinen ihm lieb und teuer gewordenen Flecken Erde, den er ungern aber unvermeidlich dem rastlosen Fortschritt preisgibt, überhaupt von Angesicht kennt. Ist das Tagebuch des Malers Ahnfeld am Ende sogar der einzige Beleg über alle die Vorgänge? Das bleibt alles sehr unklar, ein gewisses Misstrauen des Lesers wird sogar gezielt erweckt. Wie dem aber auch sei: Die ganze Geschichte, wie der Erzähler sie erzählt, ist schon einmal in Ahnfelds Bildern dargestellt worden, mit Abweichungen allerdings. Was der Erzähler dazu erfindet, ist eine fiktive Wirklichkeit, ihr liegt freilich, wie er versichert, die Kenntnis des historischen Werdegangs draußen zugrunde, der verbürgt, dokumentarisch ausgewiesen und vielfach beschrieben ist. Was wir - seine Leser - aus dem Buch erfahren, ist, "was aus dieser Alma und ihren Kindern wurde, wie die Gemeinde mit ihrem Prediger verfuhr, wie der neue Bürgermeister den Erwartungen entsprach oder was Heinz Waag des weiteren unternahm".

Da sind nun Namen gefallen, über die noch gesprochen werden muss, um weiterzukommen. Vielleicht wird dann auch klarer, warum der Erzähler sich so heftig wehrt, ein seriöser Chronist zu sein und sich in Archiven umzutun, warum er lieber seiner Phantasie vertraut - auf die Gefahr hin, im "freien Steigen" (hier war gerade von einem Bergsteiger die Rede) sich zu versteigen, also verstiegen zu wirken. Hier bekennt sich einer - fast ein wenig gegen die Zeitströmung - zur Fiktion und hat also doch mehr mit der Handlung zu tun, in der er nicht vorkommt. Er hat sie erfunden.

Da ist also zumächst der Laienprediger Armin Rufeland, mit seinem schönen "sprechenden Namen". Ehemals Mützenmacher, der sich für Sa-Mützen nicht erwärmen konnte, weil die Einheitsmützen "für so differente und diffizile Gebilde wie die Köpfe der Menschen" ihm nicht angemessen schienen. Er gerät darüber ins Predigen und übers Predigen ins KZ. Zurückgekehrt, erlebt er "hinter den Bergen" seine große Stunde. Über die Ursachen dafür ist auf Seite 259 nachzulesen ("Wann und wie entsteht ... ein Laienprediger"). Mir als interessiertem Leser kommt es auf die Wirkungen an, welche der heilige Eifer des Narren in Christo auslöst, - zugegeben nicht ganz ohne handfeste Manipulationen. Kurz referiert: Der Laienprediger nutzt die Geburt eines Kindes unter ungewöhnlichen Umständen im Jahr 1945, um seinen Zuhörern das Kind als einen künftigen Heilsbringer in der Nachfolge Christi zu suggerieren. Ein Alltagsvorgang wird zum Symbol erhoben und mit dem Symbol eine private Mythologie aufgebaut. Worauf sie zielt ist eine urchristliche Vorstellung: die der sozialutopischen Traditionen des frühen Christentums entlehnte Verwirklichung einer kommunistischen Gemeinde. Und so wird "an einem isolierten Ort die Historie verrückt. Während vor den Bergen das Herrenland an die Umsiedler, landlosen Bauern und Landarmen ausdrücklich verteilt wurde, überredete Rufeland die Ruhiner zur Gütergemeinschaft".

Mit Überzeugung, Wortgewalt und Rafinesse, mit Sinn für die Symbol Wirkung von Situationen und mit ungescheut - wenn auch im Bewusstsein ihrer Problematik - eingesetzter Demagogie um der vermeintlich guten Sache willen setzt Rufeland sich durch. Er tut das freilich ohne recht zu merken, wie die Organisation seines kleinen Gottesreiches dessen Voraussetzungen mehr und mehr zersetzt. In denen ist kein Platz für die geschichtlichen und ökonomischen Realitäten. Das unerschütterliche Vertrauen auf die Kraft der Gemeinschaft, das der Prediger seiner christlichen Kommune zugrundelegt, hat nicht Raum für eine "unterschiedliche Würdigung der Arbeit, ausgedrückt in unterschiedlicher Vergütung" - weil eben die unterschiedliche Vergütung eine solche Gemeinschaft zersetzen muß.

Der Glaube an den dem Menschen eingeborenen Gott soll die Gütergemeinschaft begründen, und hier, in diesem kleinen Dorf Ruhin, soll ein Beispiel geschaffen werden. Es müsse - meint Rufeland - im ganzen Lande "wenigstens einen Vergleich geben. Nur am Vergleich wird die Wahrheit einer Sache sichtbar". Das sagt er gegen das Lob des Besitztums, gegen die Predigt des "stolzen Eigentums des kleinen Mannes" gerichtet - "als ob darin kein Widerspruch läge". Tatsächlich, hier liegt ein Widerspruch, es fragt sich nur, wie er zu lösen wäre. Die ironisch-satirische Grundanlage des Buches besteht darin, Rufelands Satz in seiner Umkehrbarkeit zu zeigen: Der Vergleich der Vorgänge hinter den Bergen mit der "allgemeinen Entwicklung" bestätigt ja gerade, aufs Ganze gesehen, dass der Versuch christlicher Gütergemeinschaft, das Vorprellen zur genossenschaftlichen Ordnung vor der Zeit, das Dorf hinter den Bergen mit seiner geschichlichen Ungleichzeitigkeit ins Hintertreffen bringt.

Nun wäre es sicher kein kurzweiliges Lesen, ginge es nur darum, längst Bewiesenes noch einmal zu beweisen: Dass die Bodenreform notwendig war, dass ein Eigentümerbewusstsein der Neubauern geschaffen werden mußte, ehe der Schritt zur Genossenschaft getan werden konnte. Da läge wenig Witz darin. Der Witz liegt woanders. Da ist der Genosse Waag, ein Erfasser, der übers Nationalkomitee Freies Deutschland zur Einheitspartei gekommen ist. Als Marxist steht er verwirrt vor der Tatsache, dass hier ein Kommunismus von Gottes, oder besser: des Predigers Gnaden eingeführt worden ist, wo doch ein antifaschistisches und demokratisches Eigentümerbewusstsein der Bauern auf der Tagesordnung seines politischen Wirkens steht. In seiner Eigenschaft als Erfasser kann er jedoch - mit nachdrücklicher Billigung des Kreisvorsitzenden Achtel - die Vorteile genossenschaftlicher Arbeit nicht übersehen, die eine Spezialisierung und damit eine planmäßige und erfolgreiche ölfruchtwirtschaft sowie einen rationalen Einsatz von Maschinen befördert. Er steht vor der bitteren Tatsache, dass sein Sieg über den Prediger Rufeland, die Wiedereinführung der Einzelbauernwirtschaft, nicht nur den Kreisplan des ölfruchtanbaus gefährdet, sondern auch die nun endlich anstehende Vergenossenschaftung der landwirtschaftlichen Produktion arg ins Gedränge bringt.

Und da ist der Demokrat Bolle, der bei der berühmten Geburtsszene nicht niederkniete, Bürgermeister ohne Macht wird und sogar Genosse der Einheitspartei, aber - wenn er dem Willen seiner Gemeindemitglieder gerecht werden will - nur die reichlich undemokratische Befehlsgewalt des Kirchenrates bestätigen kann. Seine Stunde kommt später, aber absurderweise gerade dann, als die Erinnerung an die Zeit der christlichen Gütergemeinschaft zur Touristenattraktion geworden ist. Der alte Prediger Rufeland wird nun de facto sein Angestellter und dessen Idee zu einer - im sozialistischen Sinne genutzten - Geldquelle für seine Gemeinde.

Und da ist vor allem Alma, die heilige Jungfrau unter dem zum Altar umfunktionierten Jagdflugzeugflügel. Sie ist die große Figur des Buches, ihre und ihrer Kinder Geschichte machen das Rückgrat der Erzählung aus. Und das in mehrfacher Hinsicht. Dass die ohne ihr Zutun zur heiligen Jungfrau symbolisch aufgewertete junge Frau gerade dadurch von den Menschen isoliert, ihrer individuellen Möglichkeiten beraubt wird, ist das eine. Dagegen steht, dass die ledige Mutter zwar Symbolfigur des Predigers ist, aber für die Leute eben eine ledige Mutter, eventuell - wie man munkelt - sogar Mutter eines kleinen Iwan. Höchst sinnlich und anziehend für die Männerwelt, bleibt ihr dann der Konflikt, entweder keusch zu leben, wie der Prediger es möchte, damit sein Symbol nicht angekratzt werde, oder den recht handgreiflichen Zudringlichkeiten der Männer nachzugeben. Und da sie keine Heilige ist und auch nichts weniger als das sein will, kommt sie auf diese Weise mit der Zeit zu sechs Kindern und einem schlechten Ruf aber nicht zu einem Mann.

So wird Alma ein ständiger Stachel gegen die Verhaltensweisen der Leute in ihrer Umgebung, deren Erwartungen sie nicht bedient, weil sie ihr eigenes Leben lebt, so gut es geht. Man will sie zur Heiligen machen, aber sie lebt als Frau, man will sie loswerden, aber sie bleibt im Dorf, man will sie als Flittchen betrachten, aber sie bewährt sich als Mutter, man nimmt ihr die Kinder weg, aber die Kinder kehren zuletzt auf umwegige Weise zu ihr zurück, zu ihrer Wärme und Selbstlosigkeit. Und als schließlich im Dorf die Genossenschaft nur formal gegründet wird, weigert sie sich, diese Scheinlösung zu akzeptieren. Denn das widerspricht ihren Interessen, und ihre Beharrlichkeit erzwingt schließlich den tatsächlichen übergang zur genossenschaftlichen Feldwirtschaft. Kurz: In der Gestalt der Alma werden elementare Interessen artikuliert, die zu berücksichtigen und durchzusetzen letztlich der Sinn der Umwälzung auf dem Lande ist. Gefragt wird, welche Möglichkeiten sich dafür bieten und wie die Bedingungen geschaffen werden können, sie zu nutzen. Mit Recht stellt Ahnfeld, der Maler, ihre Gestalt ins Zentrum seiner Bilderfolge in der Kirche: Sie ist der heimlichen Bezugspunkt des Ganzen. So betrachtet, war die "Krippenszene" von 1945 tatsächlich eine symbolische Situation, wenn auch in einem ganz anderem Sinne als Rufeland meinte. Deshalb hat Ahnfelds Gemälde auch an Stelle des einen Kindes die sechs Kinder gemalt, wie einen Blumenstrauß. Almas sechs Kinder - mitsamt dem Verhalten ihrer Väter zu ihnen und zur Mutter - machen etwas von den Möglichkeiten wirklicher Gemeinschaft und sehr viel vom Mangel an menschlicher Gemeinschaft sichtbar.

Gütergemeinschaft, Kommunismus gar, ist eben nicht Sache eines noch so guten Willens und noch weniger eine Sache frommer Manipulation. Alma spürt das letztlich am derbsten. Ironischerweise ist es gerade der kleine Heilsbringer Hans, der den Stein ins Rollen bringt, welcher sich im Fundament der Gemeinde längst gelockert hatte. Aufgefordert, eine Predigt zu halten - Rufeland verspricht sich davon den Effekt einer neuerlichen Festigung der Gemeinde, die arg ins Bröckeln geraten ist - predigt er. Die Folgen sind katastrophal oder besser: reinigend, wie immer man das sehen will. Er spricht drauflos, spricht aus, was er denkt. Weil die Bibel und der Eulenspiegel die einzigen Bücher sind, die er kennt, predigt er über das Thema Christus und Eulenspiegel. Unverkennbar sieht der junge Prediger den Eulenspiegel als den realitätsnäheren von beiden an. Weil er die Leute nicht auf den Himmel verweist, sondern auf ihre eigenen Interessen, ihre Interessen im Diesseits, erweist sich Eulenspiegel in dieser Sicht als der bessere Heiland.

Damit wird aber die mühsam gebastelte fromme Ideologie des Predigers Rufeland in die Luft gesprengt. Der Zufall hilft nach: Der zum Altar umgemünzte Flugzeugflügel speit durch eine unwillkürliche Bewegung Hänschens Feuer - es steckte noch ein Maschinengewehr drin - und der Prediger Rufeland kommt wegen unerlaubten Besitzes von Kriegsmaterial ins Gefängnis. Dort denkt er über seinen Misserfolg nach und kommt zum Ergebnis, dass er die Frauen nicht in seine Rechnung einbezogen hat. Im Dorf aber richtet sich die Wut der Bauern gegen Alma, die ungewollt Ausgangspunkt von Rufelands Gottesreich-Predigten war. Sie wird mißhandelt und wäre um ein Haar verbrannt worden, hätte nicht die zufällige Anwesenheit eines Landvermessers und Geologen die Bauern gezwungen, als Ausrede für ihr Tun die uralte Sitte vom "Einholen der Sommerfrau" zu erfinden.

Zufälle haben bei Köhler ein großes Gewicht. Denn sie bringen ins Rollen, was untergründig schon in Bewegung gekommen ist. Und es zeigt sich, dass die Bewegungsrichtung nicht so eindeutig fixiert werden kann, wie das wünschbar sein mag. In der Ungleichzeitigkeit des Dörfchens hinter den Bergen wird Geschichtsdialektik ablesbar. Der Einbruch der gro ßen Welt hat seltsame Folgen. Nicht nur, dass das nun geweckte "Eigentümerbewusstsein" die Entwicklung zur Genossenschaft verzögert und deformiert. Auch daß scheinbar Bodenschätze im Ruhiner Land gefunden werden, setzt neuerliche Manipulationen in Gang, die neue Fakten schaffen. Alt-Kirchenrat und Neu-Bürgermeister Windisch zeigt Initiative: Im festen Vertrauen auf die Bodenschätze baut er ein neues Dorf mit großen Krediten. Ein neuer Widerspruch tut sich auf: Die Welt vor den Bergen greift auf doppelte Weise in die hinter den Bergen ein. Erfasser Waag wollte nur das Dorf zu einem Dorf machen, das sich entwickelt wie andere Dörfer auch. Windisch aber will höher hinaus. Guter Rechner, der er ist, will er die neue Chance nutzen. Er setzt aufs erhoffte Erdöl oder Erdgas, statt auf die Genossenschaft, welche inzwischen unvermeidlich geworden ist. Als sich beides nicht einstellt, katapultiert ihn der Zufall nicht ins Kittchen, wie sich das gehört hätte, sondern in neue Projekte.

Statt eine Schweinezucht-Genossenschaft aufzubauen, wird mit Hilfe des Kreisvorsitzenden Achtel die kostspielige "Initiative" Windischs genutzt, um ein Naherholungszentrum für die Stadt vor den Bergen zu schaffen. Nun kommt auch Bolles Weizen zum Blühen, der als gewiefter Handelsmann zurüchkehrt und die Ruinen von Rufelands Bemühun gen - das Gemeinschaftshaus und die Kirchenruine mit Ahnfelds Bildern dem Tourismus erschließt. Sehenswürdigkeiten werden gebraucht und so wird die Kirche renoviert, freilich als moderne Nachgestaltung aus Beton und Glas, in der nichts mehr von der Unmittelbarkeit ihrer traditionellen Nutzung und von Ahnfelds Bildern zu spüren ist. Die schöne Idee von damals ist verflacht, aber ihre Ruinen werden ökonomisch nutzbar gemacht. auch die alten Katen werden Ferienhäuser, das Dorf ist an den Rand gedrängt und die Bauern werden zu Statisten der von stadtflüchtigen und naturhungrigen Feriengästen bestimmten atmosphäre. Die alten Bilder Ahnfelds sind nur noch im Heimatmuseum zu besichtigen. In diesem Konstrukt der Entwicklung des Dorfes steckt satirische Logik und zugleich mehr. Ahnfeld hatte am Schluß seiner Bilderfolge mit Recht ein Warnbild aufgestellt, mit dem sich der Erzähler freilich nicht ohne weiteres abfinden will. Man dürfe - meint er - die Geschichte nicht so dahinschießen lassen, wie sie sich in Ahnfelds Sicht darstellte. Denn Ruhin sei nicht das Zentrum der Welt und es sei weder erlaubt, das Schwarz auf Weiß überlieferte - also die erzählte Geschichte - aus dem Wege zu räumen noch das "Recht des Lesers auf Realistik" zu mißachten. So bleibe nur der Ausweg, nicht zu fragen: "Gibt es denn das?" sondern: "Durfte es denn so etwas geben?" Diese leicht abgründige satirisch-ironische Wendung zielt schon auf die späteren Teile des Buches. Die verspätete Genossenschaft zieht die verfrühte Ingangsetzung eines auf illusionären Voraussetzungen aufgebauten Baugeschehens nach sich. Dies wiederum den Ausbau des Dorfes zur Ferienkulisse, die die Genossenschaft selbst wieder behindert. Ein Knäul von Widersprüchen und Disproportionen bildet sich, das aufzulösen allerdings nicht bedeutet, Geschehenes rückgängig machen zu wollen. Denn Geschehenes kann nicht rückgängig gemacht werden, Geschichte ist irreversibel. Mehr noch: auf jeder Ebene des Handlungsgeschehens sind tatsächliche Interessen der Beteiligten im Spiel, die nicht glatt unter " inen Hut gebracht werden können. Das Interesse der Genossenschaft an der Schweinezucht und das der Städter an Erholung widersprechen sich, da ist nichts zu machen. Das heißt aber, dass Lösungen nicht im Rahmen der Dorfflur von Ruhin zu finden sind, jeder Schritt in der Entwicklung des Dorfes bringt Fortschritte und Verluste mit sich, ohne Verluste ist der Fortschritt nicht zu haben. Die Ruinen, die auf jeder Stufe zurückbleiben, werden auf der nächsten weitergebaut, aber auf andere Art. Sie bleiben Ruinen und sind zugleich Fundamente für etwas anderes.

Auch für solche Geschichtssicht ist Alma - samt ihren Kinden - eine Symbolfigur. Das Gespräch Almas mit ihrer Tochter, der Forstelevin, handelt davon, und mit grotesker Genauigkeit wird diese Sicht in der Figur des kleinen Heilsbringers Hänschen deutlich gemacht. Er erfüllt wirklich jene Funktion, die ihm von Rufeland vorgegeben worden war: Wie seine Predigt die zwar schön gedachte, aber brüchig gewordene Idylle des Gottesreiches zum Einsturz bringt, so kommt er später ins Dorf als "Büttel" zurück, als Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei, um streng und gerecht - am Rande vermerkt: auch ein wenig engstirnig - Ordnung in das Chaos zu bringen. Dann nämlich, als der Wildwuchs widerstreitender Entwicklungen sich zu neuen Konturen zu formieren beginnt.

Ruhin ist "Teutschkendorf" geworden. Und Tochter Astra hat das letzte Wort, wenn sie über ihre Mutter denkt: "Du warst tapfer, Mutter, aber du hast es nicht so gewollt [...] Was dir bleibt, ist ein Ersatzleben in uns (den Kindern. D.S.), durch uns". Oder anders und allgemeiner gesagt: Die Ruhiner, "wenn sie ihre Blicke altersweitsichtig über die Lichtung schweifen ließen, sahen sie manches von dem verwirklicht, was ihnen der Prediger einst vorgeschwärmt hatte, nur daß sie es nicht allein getan hatten und schon gar nicht aus freien Stücken, und daß es ihnen also auch nicht allein zugute kam, sondern vor allem solchen vom Getümmel des Großstadtlebens zumeist in Sorge um andere angeschlagenen Menschen" - den Gästen des Sanatoriums. Die Geschichte vom Dorf hinter den Bergen ist die Entfaltung einer Utopie, die sich der Wirklichkeit stellt. Entwurf zu einer Rezension des Romans von Erich Köhler "Hinter den Bergen" (Rostock 1976). Unveröffentlicht.

aus:
Rückblick auf ein verlorenes Land
Studien und Skizzen zur Literatur der DDR

Rückblick auf ein verlorenes Land
Studien und Skizzen zur Literatur der DDR
Edition SCHWARZDRUCK Gransee 2019