Der Krott oder: Das Ding unterm Hut.
Erzählung von Erich Köhler

Rezension von Leonore Krenzlin (1977)

Auf die Gefahr hin, mir den Ruf zu erwerben, ich würde Kunstwerke in Schubkästen einordnen, auf denen Genrebezeichnungen stehen, sage ich trotzdem gleich anfangs: Der "Krott" ist ein philosophisch-satirisches Märchen. Ich sag's, weil es wahrscheinlich nicht jedermanns Sache ist, daran ein Vergnügen zu finden. Wer aber Grübelei und Gedankenflug beim Lesen nicht scheut, wird seine Freude an diesem scharfsinnigen und eindringlich geschriebenen Stück Prosa haben. Das schmale Bändchen zeigt, was nach Köhlers Roman "Die Schatzsucher" (1964) und dem Erzählungsband "Nils Harland" (1968) zu ahnen, beim Lesen seines Dramas "Der Geist von Cranitz" (1972) bereits deutlich zu spüren, allerdings auf der Bühne nicht so recht zu sehen war: daß Köhlers Stärke in einer bizarren Komik liegt, die latente Widersprüche überscharf sichtbar werden läßt.

Die Geschichte vom Krott diskutiert nicht mehr und nicht weniger als philosophisch-ökonomische Grundfragen unserer Gegenwart. Wie weit beherrschen wir eigentlich die Prozesse, die zu steuern und zu regeln wir uns täglich bemühen - vom einfachen Produktionsvorgang wie der Herstellung von elektrischer Energie bis hin zum großen Kreislauf der Natur, in den der Mensch ständig eingreift und den er doch auch erhalten muß, will er nicht die Voraussetzungen seiner Existenz untergraben? Reicht es für unsere Gesellschaft, die Steigerung der Produktion, deren wir dringend bedürfen, vor allem materiell zu stimulieren, ob nun mit Geld oder durch die Verteilung von Berechtigungsscheinen für die "kurzfristige Auslieferung käuflich zu erwerbender Personenkraftwagen"? Und hilft es weiter, dagegen vom Standpunkt einer utopischen Moral zu argumentieren, die sich für kommunistisch hält und in Wirklichkeit auf die Denkkategorien bürgerlich-humanistischer Philosophie zurückgreift, deren Entwürfe groß gemeint waren, aber die Gesellschaft nicht verändern konnten?

Man kann diese Fragen für langweilig, weil allzubekannt halten - bei Erich Köhler sind sie wie neu. Um sie zur Sprache zu bringen, bedient er sich eines grotesken Einfalls. Einem braven Mann, Paul Jordan mit Namen, widerfährt ein seltsames Unglück: Er holt sich einen Krott. Das ist ein gefährliches schmarotzendes Tierchen, das in Waldseen lebt und sich gelegentlich an der Glatze von Badenden festsaugt. Nun spritzt der Krott in Jordans Hirn sein Gift, das zunächst eine allgemeine Sensibilisierung des Organismus hervorruft, später aber zu Wahnsinn und Tod führt. überwach erlebt und bedenkt Paul Jordan jetzt auf neue Art, was ihn seit Jahren umgibt. Er nimmt wahr, wie schwer noch immer die körperliche Arbeit in seinem Kraftwerk ist, zumal wenn da ein Kran, der sie erleichtern könnte, wegrationalisiert worden ist - und er entdeckt den eigentümlichen Stolz der Arbeiter auf ihre Tätigkeit. Er bemerkt die Routine, mit der er seine Kulturarbeit ausgeführt hat, erfolgreich zwar, aber ohne ihren Sinn vor Augen zu haben - und kümmert sich plötzlich um die Neuererbewegung, entdeckt dabei als Unterpfand der Zukunft ein "Werkstattkollektiv für Klebetechnik", das mit ungewöhnlichen Technologien aufwartet, und einen Meister, der die begründete Unterbietung von Arbeitsnormen als "kulturgerecht" bezeichnet. Er forscht dem Sinn und Hintersinn von abgegriffenen Formulierungen in Protokollen und Betriebskollektivverträgen nach, und er nimmt plötzlich Anstoß daran, daß die Schaukästen im Stadtzentrum leerstehen.

In den Augen seiner Familie ist und bleibt Paul Jordan ein Pragmatiker, der über das, was der Tag verlangt, nicht hinauszuschauen vermag. Für die Leitungen ist er ein tüchtiger Funktionär, der neuerdings einen erfreulichen Kontakt mit den Produktionsarbeitern hält. In Wirklichkeit führt er, dem Wahnsinn nahe, ein Doppelleben und gerät durch das Krott-Gift in vertrackte Lagen: auf dem Rücken in einer reparaturbedürftigen Riesentrommel liegend, mit den Füßen eine zentnerschwere Eisenschiene stemmend, schweißüberströmt von der Hitze und von Übelheit geschüttelt durch die Drehbewegung der Trommel, begreift er endlich, was die Forderung nach Kultur am arbeitsplatz beinhalten kann. Paul Jordan hat schon vor dem Krott gern von der Zukunft geträumt, von einer paradiesischen Gesellschaft, in der Natur und Produktion, Nützlichkeitsdenken und Muße in schönstem Einklang miteinander stehen. Durch den Krott ist ihm sein Traum hautnah auf den Pelz gerückt, er fragt sich bei jeder Handlung, was sie im Guten und im Bösen für die Zukunft bewirken kann.

Paul Jordan hat einen Widerpart in der Diskussion: seine halbwüchsige Tochter, die sich die Gesellschaft der Zukunft nach Immanuel Kants kategorischem Imperativ geordnet vorstellt - und es dem Vater überlassen möchte, die materiellen Voraussetzungen für einen solchen Idealzustand zu schaffen. Und Paul hat einen Helfer: Starschi, den Starschlosser des Betriebs, selbstbewußt, geschickt und durchtrieben, der auch ohne Krott versteht, was Paul Jordan getrieben hat, ein Warenhausfenster auszurauben, um mit dem Inhalt die leeren Schaukästen zu dekorieren. Starschi ist es auch, der Paul Jordan vom Krott erlöst - durch einen Hammerschlag, stark genug, um die steinharte Schale des Krott, feinfühlig genug, um nicht Jordans Hirnschale zu zertrümmern.

Der Schluß bleibt offen. Vom Krott befreit, dämmert Paul Jordan fürs erste im Krankenhaus dahin und träumt seinen Traum von der Schöpferkraft des Menschen. Die Erzählung will nicht Lösungen anbieten - sie versucht ein wenig von der Unruhe des Krott-Gifts auf den Leser zu übertragen, ihn ermuntern, Gewohntes neu zu sehen. Was sie will, sagt man vielleicht am besten mit Paul Jordans eigenen Worten: "Wissen, was der Tag verlangt? Ja doch. Den Wecker rasseln hören? Gewiß. Aufstehen, prompt, das Übrige von gestern tun, das Übrige für morgen einleiten, so ganz ohne Stutzen und Staunen? Das nicht."

Gedruckt in "Sonntag" vom 27. 3.1977.