Radauer

oder
Aufstieg und Fall von Politanien


 

Verlag KULTURMASCHINEN Berlin 2010

Auf dem alten Friedhof mitten im Neubaugebiet, in ei­ner entlegenen Ecke hinter Wacholderhecken haben wir so eine Art griechisches Minitempelchen entdeckt. Mausoleum wäre geprahlt. Auf einer Bronzetafel im verwahrlosten Tempelräumchen vergammelt eine Inschrift unter Grünspan: "Hier ruhet unvergessen unser Heimatdichter Alexander... Allzu frühe von uns gegangen, hat er seine schönsten Ge­schichten mit in das Grab genommen."

Meine Leute glupschen mich an, als wäre ich verpflich­tet, etwas von dem allzu frühe von uns Gegangenen gelesen oder wenigstens gehört zu haben. Bin ich nicht, ehrlich, wo er seine schönsten Geschichten sowieso mit in das kühle Grab genommen hat. Ich stampfe. Es klingt hohl. Ich sage: Brecheisen, Seil, Taschenlampen

Wozu, Mann
Wegen der Geschichten
Werden die nicht vermodert sein
Oder überholt
Ich sage: Hat er uns etwas vorenthalten oder nicht. Er hat. Grund genug, dass wir mal nachsehen
Ist das nicht Ruhestörung
Ist es. Oder denkt ihr, ich hätte Ruhe, ehe ich Bescheid weiß

Wir lassen uns hinab, ein Schacht, rechteckig ausgemau­ert, überraschend hell, obwohl wir zur Deckung die Platten über uns wieder geschlossen haben. Die Taschenlampen können wir jedenfalls ausschalten. Auf dem Gruftboden finden wir eine Art Sandkasten. Neben dem Kasten kauert ein Kind. Da muss ich mich denn doch erst einmal vernehmlich räus­pern. Endlich schaut das Kind, oder was das ist, mit großen dunklen Klüsen auf. Ich sage: Ich wollte bloß mal nachsehen

Wie bitte, fragt das Kind, aber sein Stimmchen macht kein Echo
Was hier los ist, wollen wir wissen
Was soll hier schon los sein
Hier soll einer, allzu frühe von uns gegangen, paar alte Geschichten
Hier gibt es keine alten Geschichten, nur mich
Und was tust du hier, wenn man mal fragen darf
Ach, immer dasselbe
Nämlich
Ich baue die Stadt Troja auf, hier im Sandkasten. Jemand zertrampelt sie und ich, ich baue sie immer wieder auf
Moment mal, sage ich, die Decke war dicht. Uraltes Moos zwischen den Platten. Garantiert unbewegte Lage, seit die Gruft geschlossen wurde. Und du kommst uns mit dem großen Un­bekannten. Entweder, du willst uns, oder du bist selber...

Das Kind: Getrampelt wird aber. Hier war die große Ring­mauer, hier die Unterburg, da die Oberburg, dort das Skäische Tor, dazwischen Marktplatz, Wohnhäuser, Spei­cher. Alles ist hin

Ich deute per Zeichensprache an, was von der Sache zu halten ist, aber da mischt sich Linda ein, die Zierde unseres Vereins, sozusagen. Moment mal, gurrt sie. Ganz Europa wurde kürzlich..., aber keiner will so recht wissen, von wem. Das riecht nach Hintermännern, nach Veranstaltern, die sel­ber im Dunkeln bleiben. So sehe ich das

Das mag für oben gelten, denke ich, von wo wir herabge­kommen sind. Das hat was mit Gesellschaftswissen­schaftlerei zu tun. Aber hier, in dieser übersichtlichen, abgeschlossenen Kammer, hier nicht. Hier könnte höchstens ein Geist ... Ich sage: Vielleicht erklärst du uns erst, wie du hier hereingekommen bist

Ich? Ich war schon immer hier. Ich heiße Mä-eu-tik. Ich baue Troja auf, sooft es auch zertrampelt wird. Hier kommt das Stadion her, hier das Amphitheater, hier die Rampe zum Haupttor

Aha, und wie alt bist du, du kleiner Mäusedik
Mä-eu-tik, das kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie Kind der Hebemutter
Soso. Und wie alt bist du
Na, einhundert oder eintausend Jahre oder mehr. Auf ein paar Jährchen kommt es hier nicht an

Ich taste vorsichtshalber nach der Wäscheleine, an der wir uns herabgelassen hatten. Den selben Einfall haben gleichzeitig meine Kameraden. Nur unser Mädchen gibt sich lässig: Oho, und seitdem zertrampelt jemand deine Stadt, und du weißt nicht, wer, und baust sie immer wieder auf
So ist es. Aber wer seid ihr

Hm, sage ich, das hättest du gleich fragen können. Diese da heißt Linda Lässig. Sie ist die älteste von uns Vieren. Neun­te Klasse, wenn du weißt, was das bedeutet, unreif, super­klug, vorlaut. Macht alles mit links. Der Lange neben mir ist Ludwig, mit Nachnamen heißt er auch Labahn. Wir nennen ihn Lutz. Sein Spitzname ist Rabauker, hat er sich selber zugelegt, um zu prahlen. Mehr ist über ihn nicht zu sagen. Dieser da, unser kleinster, dickster, der sich wie ein Klam­mer­affe am Seil festhält und so sehnsüchtig empor schielt, heißt Karl-Heinz Wünscher. Er selber nannte sich früher Krakeelmann. Das erkläre ich dir genauer, weil du es bist. Jetzt sagen wir Karli oder Karlemann zu ihm. Ich bin Kurt Radauer. Das ist tatsächlich mein ehrenwerter Vatername. Ich habe diese Truppe zusammengestellt, in langwieriger Kaderarbeit. Früher waren wir einfach eine Rasselbande. Und weil ich Radauer heiße, so nannten sich die beiden anderen Rabauker und Krakeelmann. Später, als wir in der Schule so'n bisschen Pionierorganisation mitgekriegt hatten, nannten wir uns ein Erlebnisaktiv. Denn Frnsn ist nichts. Man muss sel­ber etwas losmachen. Jetzt halten wir bloß noch so zusam­men. Aber das tun wir. Bis das Leben uns scheidet. Dann trete ich unter die Fahne, als Offiziersschüler, Linda gerät in irgendein Ehebett, wahrscheinlich aber macht sie Karriere als Scheidungsrichterin, Lutz wird Ingenieur, und Karl-Heinz kommt in ein Büro, wo es viele viele Berichte zu schreiben gibt. In der Bande war er nämlich unser Schriftführer und hat als solcher unheimlich geflunkert. Darum nannten wir ihn Krakelmann. Noch Fragen
Was ist Frnsn
Frnsn ist blöd
Kurt meint das Fernsehen, erläutert Linda
Au ja, macht das Kind, das ist, wenn du von der Burg aus die Schiffe siehst

Nein, sage ich. Denn wenn du von der Burg aus die Schif­fe siehst, zum Beispiel der Griechen mit Agamemnon und seiner ganzen Meute an Bord, dem ehrpusseligen Achilles, dem beutegierigen Diomedes, dem verschlagenen Odysseus, dem rauflustigen Ajax, dann kannst du Gift darauf nehmen, dass diese Kerle auch wirklich kommen und dir die Ohren abschneiden. Beim Frnsn dagegen passiert nichts. Du hängst auf der Kautsch, knautschst Kaugummi am Gaumen, und lässt dich aus der Flimmerröhre vollpflaumen

Das Kind äugt, hat keinen blassen Schimmer einer Ah­nung. Es beginnt wieder im Sandkasten zu buddeln: Also hier führt die Freitreppe zum Tempelbezirk hinan. Sie ist ganz aus Marmor, wie das Heiligtum selbst und der Königspalast. Die übrigen Häuser sind aus Holz. Nur die Grundmauern sind aus Feldsteinen gefügt. Wenn die Stadt zerstört wird, verbrennen die Häuser und die Menschen mit. Kein Stein bleibt auf dem anderen liegen. Ich muss alles wieder zusammensuchen

Hör mal, lässt sich Karl Heinz vernehmen, ist das nicht langweilig? Städte, wie dieses Troja, die gibt es doch gar nicht mehr. Wenn du heutzutage eine Stadt aufbaust, fängst du mit dem Bahnhof an, damit du Leute heranschaffen kannst, dazu Post, Telegraphenamt, Telefonzentrale. Dann muss ein Kraft­werk her. Ohne Strom geht nichts. So nach und nach wird die örtlich gelenkte Industrie wieder angekurbelt. Die mate­rielle Produktion, verstehst du. Dann kannst du die Nach­folge­einrichtungen hochziehen: Sozial-, Versorgungs-, Gesundheits-, Lehr- und Kultur­einrichtungen, Kino, Schwimm­halle, Theater, Kirche

Karl-Heinz lässt sich neben dem Gruftmännchen nieder und wühlt im Sand.
Die Frage ist: Wie kriegt man das am schnellsten, billigsten, zweckmäßigsten zusammen. Das nennt man Planung. Dabei die eigene Führungsrolle niemals vergessen. Also, was brauchen die Leute

Erich Köhler

Radauer oder: Aufstieg und Fall von Politanien

Kulturmaschinen Verlag
ISBN 978-3-940274-18-2
Euro 12,80 (D) 14,80 (A) / 19,30 CHF

Verlag KULTURMASCHINEN Berlin 2010

 
siehe auch Leander Sukov:
Schriftsteller im Sozialismus,
IM aus Überzeugung

zur Erich-Köhler-Reihe im Kulturmaschinen-Verlag
"unsere zeit" vom 12. Febr. 2010

Leseprobe: Prolog zu "Sture"
Nachwort zur Neuerscheinung 2009
"Sture" wiedergelesen 2010

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